Das Arabische ist neben dem Hebräischen und Aramäischen eine wichtige Sprache jüdischer Gelehrsamkeit und war über mehrere Jahrhunderte die Muttersprache von mehr als der Hälfte der jüdischen Bevölkerung. Auch viele deutsche Juden waren vom Arabischen fasziniert.
Im Jahre 1861 wurde an der Universität Heidelberg der Arabist Gustav Weil als erster Jude in Deutschland zum ordentlichen Professor ernannt. Er ist besonders durch seine Übersetzung der Märchen aus Tausendundeiner Nacht berühmt geworden, hat aber auch eine Geschichte der Kalifen verfasst. Ich möchte nun nach 160 Jahren an Gustav Weil anknüpfen und auch über Bagdad berichten, allerdings nicht über die Kalifen, sondern über die überaus interessanten Dialekte dieser Stadt.
unterschiede Bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden dort drei verschiedene Dialekte gesprochen, der Dialekt der Muslime, der Christen und der Juden. Zwischen den drei Dialekten bestehen große Unterschiede. Ich werde im Folgenden erklären, woher sie kommen und wie der jüdische Dialekt entstand. Zuvor aber ein Blick auf eine Sprache, die uns nähersteht.
Auf einer historischen, auf Wikipedia zugänglichen Fotografie sieht man auf einer Hochzeitsfeier in Zichron Ja’kov bei Haifa im Jahr 1921 den späteren israelischen Regierungsbeamten Joseph Kuperman mit seinen Gästen und fragt sich, in welcher Sprache sie miteinander gesprochen haben. Sicher sprachen die arabischen Gäste einen palästinensischen Dialekt, aber wir wissen auch, was die Juden in Zichron Ja’kov damals gesprochen haben, denn wir haben Sprachbeispiele von 1920: »tati! vos teyg dir geyn maschi? nem beser dem dschachsch un rayt-arop zu der mchate.«
Es wurden dort drei Dialekte gesprochen, der Dialekt der Muslime, der Christen und der Juden.
Man erkennt leicht, dass es Jiddisch ist, obwohl man nicht alles versteht, denn »maschi« (zu Fuß), »dschachsch« (Esel) und »mchate« (Haltestelle) sind arabische Lehnwörter. Da wir nun die Bedeutung dieser Wörter kennen, erschließt sich uns auch der Text: »Vater, warum solltest du zu Fuß gehen? Nimm besser den Esel und reite zur Haltestelle!«
Die Übernahme von Fremdwörtern geht gewöhnlich auf engen Sprachkontakt zurück. Juden und Araber haben sich also nicht nur bei besonderen Gelegenheiten getroffen, wie bei der Hochzeit von Joseph Kuperman, sondern auch bei der Arbeit, beim Einkaufen, bei den Behörden. Je länger der Kontakt besteht, desto mehr Einflüsse der Kontaktsprache treten auf. Gilt das auch für Bagdad?
Dialekttypen Über die Dialektlandschaft in Mesopotamien haben wir genauere Kenntnisse durch das 1964 erschienene Werk Communal Dialects in Baghdad des blinden Arabisten Haim Blanc. Er unterteilte die Dialekte Mesopotamiens nach dem Wort für »ich sagte« in zwei Gruppen, nämlich die Qǝltu-Dialekte und die Gilit-Dialekte: Alle Juden und Christen Mesopotamiens sprechen Qǝltu-Dialekte wie die Muslime im Nordirak und in Anatolien.
Die Muslime im Süden mit der Hauptstadt Bagdad und alle Beduinen sprechen dagegen Gilit-Dialekte. Haim Blanc unterscheidet in seinem Buch aber nicht nur diese beiden Dialekttypen, sondern gibt auch eine Erklärung, wie sie entstanden sind.
Dazu zunächst ein Blick auf Mossul im Nordirak, wo es diese großen Unterschiede zwischen den Dialekten der verschiedenen Religionsgemeinschaften nicht gibt. In Mossul haben die Muslime mit »qǝltu« für »ich sagte« und »kalb« für »Hund« dieselben Formen wie die Juden, während die Muslime in Bagdad dafür »gilit« und »tschalǝb« haben.
arabisierung Da Juden und Christen vor der Arabisierung Aramäisch sprachen, könnte man vermuten, dass die großen Unterschiede zum Dialekt der Muslime in Bagdad durch den Einfluss des Aramäischen entstanden. Das ist jedoch nicht der Fall, weshalb Haim Blanc eine andere Erklärung gibt.
Im Jahre 1258 überfielen die Mongolen unter Hülegü Bagdad, plünderten die Stadt und brannten sie nieder.
Im Jahre 1258 überfielen die Mongolen unter Hülegü Bagdad, plünderten die Stadt und brannten sie nieder. 200.000 Bewohner wurden getötet. Mit der Zerstörung ihrer Hauptstadt endet die Herrschaft der Abassidenkalifen. Eine weitere Plünderung der Stadt durch die Mongolen unter Timur im Jahre 1400 soll noch brutaler gewesen sein. Nicht nur Bagdad, wo im 12. Jahrhundert 40.000 Juden lebten, sondern das ganze südliche Mesopotamien war nach dem Überfall weitgehend entvölkert.
Das Land wurde nun von Beduinen der Arabischen Halbinsel besiedelt, die sich zunehmend auch in Bagdad niederließen. Sie brachten ihren Beduinendialekt mit, der bald dominiert und den alten Dialekt der Muslime bis auf Relikte verdrängt. (…) Es sieht so aus, als ob die Juden und Christen, die in eigenen Stadtvierteln lebten und natürlich auch keine Heiratsbeziehungen mit den einwandernden muslimischen Beduinen pflegten, weitgehend von den Mongolen verschont blieben und weiterhin ihren alten Dialekt sprachen. (…)
zuwanderung Nach Haim Blanc sind nur die Qǝltu-Dialekte der Juden und Christen alte autochthone Stadtdialekte von Bagdad, während der Gilit-Dialekt der Muslime durch Zuwanderung von Beduinen aus der arabischen Halbinsel entstanden ist.
Wenn wir aber den Dialekt der Christen betrachten, finden wir dort Erscheinungen, die nicht aus Bagdad stammen können. (….) Der Dialekt der Christen stimmt hier mit den Dialekten in der Gegend von Diyarbakir in der Türkei überein, wo es bis heute viele Klöster gibt, in denen die Christen vor den Mongolen Zuflucht gefunden haben könnten.
Damit blieben die Juden als Einzige übrig, die nicht geflüchtet, sondern in Bagdad geblieben sind und dort die Massaker der Mongolen überlebt haben. Das wäre mit Blick auf die Geschichte der Juden allerdings sehr ungewöhnlich, und ich wäre mit meinen Ausführungen schon am Ende. Der jüdische Dialekt hätte dann unverändert weitergelebt, und die dialektale Vielfalt wäre nur durch die neu hinzugekommenen Dialekte der Muslime und Christen entstanden.
bagdadisch Doch so einfach ist es nicht. Zum Wintersemester 2014 kam Assaf Bar Moshe, ein Student der Linguistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem, mit einem Stipendium für Doktoranden des DAAD zu mir an das Institut für Semitistik der Universität Heidelberg. Seine Familie stammt aus Bagdad, und da er als Kind viel Zeit bei seinen Großeltern verbracht hatte, die nur jüdisches Bagdadisch sprachen, hat er in seiner Kindheit diesen Dialekt hervorragend gelernt.
Er brachte einen Schatz von Tonbandaufnahmen mit, vor allem von seiner Großmutter.
Ich hatte bisher in Israel nur ältere Menschen über 70 kennengelernt, die noch Jüdisch-Bagdadisch sprachen, und war erfreut, einen so kompetenten jungen Sprecher am Institut zu haben. Er brachte einen Schatz von Tonbandaufnahmen mit, vor allem von seiner Großmutter Alwīz, aber auch von anderen Sprechern aus Bagdad. In den Forschungsseminaren haben wir stundenlang diese Aufnahmen angehört und über Transkription, Phonologie und Morphologie diskutiert.
Dabei fiel mir zum ersten Mal auf, dass der Dialekt der Juden Merkmale hat, die in den anderen Qǝltu-Dialekten Mesopotamiens nicht vorkommen, sondern vielmehr in der Levante. Dort werden beispielsweise wie im Jüdisch-Bagdadischen die Langvokale gekürzt, wenn sie beim Antritt von Pluralendungen oder Pronominalsuffixen in eine vortonige Silbe geraten.
kennzeichen Diese Kürzungsregel, die sonst in Mesopotamien nicht vorkommt, ist ein Kennzeichen der palästinensischen Dialekte. Sie findet sich aber auch im syrischen Qalamūn-Gebirge nahe der libanesischen Grenze, und zwar nicht nur in arabischen Dialekten, sondern auch im Neuwestaramäischen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um ein aramäisches Substrat in den arabischen Dialekten der Levante handelt.
Im palästinensischen Arabisch und im Neuwestaramäischen Syriens gelten erstaunlicherweise dieselben Kürzungsregeln für die Langvokale wie im arabischen Dialekt der Juden von Bagdad. Im jüdischen Dialekt von Bagdad finden sich also levantinische Einflüsse. Ich komme daher jetzt zu meiner Vorstellung, wie der Dialekt der Juden von Bagdad entstanden ist.
Auslöser für die unterschiedlichen Dialekte Bagdads waren die Mongolen, die bei ihren Eroberungen der Stadt sicher nicht zwischen Juden, Christen und Muslimen unterschieden, sondern alle gleichermaßen massakriert haben. Trotz der großen Opferzahlen sind sicher viele Bewohner entkommen. Die Muslime sind natürlich auf die Arabische Halbinsel geflohen, wo sie in der Wüste bei den starken arabischen Beduinenstämmen Schutz und in den heiligen Stätten Mekka und Medina Trost finden konnten.
übereinstimmung Die Christen haben in den Bergen Anatoliens Schutz gefunden, wo es bis in die jüngste Vergangenheit ein blühendes Christentum gab. Aufgrund der dialektalen Übereinstimmung mit den Qǝltu-Dialekten der Region Diyarbakir in der heutigen Türkei lässt sich das Gebiet, in dem sie wohl in den vielen dort existierenden Klöstern Zuflucht gefunden haben, näher bestimmen.
Die Juden sind wahrscheinlich den Euphrat entlang bis nach Aleppo geflüchtet, wo es eine jüdische Gemeinde gab, die die Flüchtlinge aufnehmen und unterstützen konnte. Von dort sind sicherlich viele weiter nach Damaskus und schließlich nach Jerusalem gezogen, den heiligsten Ort des Judentums.
Nach dem Ende der Mongolenzeit dürften nach und nach die ehemaligen Bewohner Bagdads in die Stadt zurückgekehrt sein.
Nach dem Ende der Mongolenzeit dürften nach und nach die ehemaligen Bewohner Bagdads in die Stadt zurückgekehrt sein. Die früheren muslimischen Bewohner Bagdads müssen allerdings die Minderheit gewesen sein, denn Beduinen der Arabischen Halbinsel, die sich in der Stadt niederließen, haben den alten Qǝltu-Dialekt der Stadt verdrängt und durch einen beduinischen Gilit-Dialekt ersetzt.
rückkehr Damit sprechen nur die Juden und Christen einen alten Bagdader Qǝltu-Dialekt, allerdings nicht mehr denselben, den sie vor der Eroberung durch die Mongolen gesprochen haben. Die Christen brachten nach ihrer Rückkehr Elemente des Dialekts der Region Diyarbakir mit.
Der Dialekt der Juden unterscheidet sich deutlich vom Dialekt der Christen, weil die Juden an der Mittelmeerküste Zuflucht gefunden haben. Dort haben sie Elemente des levantinischen Arabisch aufgenommen und bei ihrer Rückkehr nach Bagdad mitgebracht. Diese levantinischen Formen haben sich bis in die Gegenwart erhalten und den einzigartigen jüdischen Dialekt von Bagdad geprägt. Mit seinem Aussterben verschwindet bald eine jahrtausendealte Kultur für immer.
Der Autor ist Semitist und Rektor der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Der Text ist eine gekürzte Fassung seiner 2021 gehaltenen Antrittsvorlesung.