Wer den Namen Jennifer Grey hört, denkt bis heute zuerst an »Dirty Dancing«. 1987 wurde die amerikanische Jüdin, Tochter von Oscar-Gewinner Joel Grey (»Cabaret«) und der Sängerin und Schauspielerin Jo Wilder, mit dem Tanzfilm zum Weltstar – und konnte anschließend nie wieder an diesen Erfolg anknüpfen. Vielleicht auch deswegen hat Grey heute selten Lust, über solche alten Kamellen zu sprechen. Beim Interview zu ihrer Rolle im aktuellen Film »A Real Pain« soll es nur um diese neueste Arbeit gehen, heißt es vorab, weswegen auch ihr Ensemble-Kollege Will Sharpe mit im Gespräch sitzt.
Doch weil uns ihre dezidiert jüdische Sicht auf diesen außergewöhnlichen Film interessiert, konzentrieren wir uns ganz auf die 64-Jährige. Und der ist die Begeisterung darüber, endlich einmal wieder Teil eines echten Kino-Erfolgs zu sein, deutlich anzumerken. »A Real Pain« wurde bislang unter anderem mit Preisen beim Sundance Film Festival oder beim Jüdischen Filmfestival in Warschau sowie bereits mit einem Golden Globe ausgezeichnet.
Frau Grey, in »A Real Pain«, dem neuen Film von und mit Jesse Eisenberg, spielen Sie eine Teilnehmerin einer Reisegruppe, die in Polen auf den Spuren des Holocaust unterwegs ist. Was reizte Sie an dieser nicht sonderlich großen Rolle?
Normalerweise können es viele unterschiedliche Faktoren sein, die mich dazu bewegen, eine Rolle anzunehmen. Eine spannende Geschichte, ein toller Regisseur oder eine tolle Regisseurin, Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich arbeiten möchte, oder einfach eine reizvolle Rolle. Im Fall von »A Real Pain« kam all das in einem Projekt zusammen, was wirklich kaum je der Fall ist. Sicherlich, die Rolle ist ziemlich klein, aber ich wollte einfach ein Teil dieses Werks sein, das auf dem Papier schon so unglaublich gut klang. Das Drehbuch war mit einer bemerkenswert klaren Stimme geschrieben. Und mit einer Dringlichkeit, die einen spüren ließ, dass da jemand wirklich etwas zu sagen hat.
Und auch mit erstaunlich viel Humor, oder?
Oh ja. Mir ist es auch immer ganz wichtig zu betonen, dass man auf keinen Fall Angst haben sollte vor diesem Film. Oder denken, er sei ausschließlich schwere Kost. »A Real Pain« ist kein Film über den Holocaust. Für mich ist dies vielmehr ein Film über Menschen und ihren Schmerz, über Identität und Mitgefühl, über Einsamkeit und Miteinander, über Widerstandskraft und Hoffnung. Der Humor spielt deswegen so eine große Rolle, weil die Menschlichkeit im Vordergrund steht. Und was wäre menschlicher, selbst in den dunkelsten Stunden, als Humor? Im Grunde geht es hier auch darum, aus der Vergangenheit zu lernen und Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Damit kann jeder etwas anfangen, auch wenn man keinerlei Bezug zum Holocaust hat.
Sie selbst haben allerdings einen starken familiären Bezug zu diesem Thema, nicht wahr?
Sowohl meine Familie mütterlicherseits als auch väterlicherseits war vor dem Holocaust in die USA geflohen. Die einen aus Lettland, die anderen aus der Ukraine. Diese Familiengeschichte hat mein Leben geprägt, und das Wissen darum, dass meine Familie damals in größter Gefahr war, ins Exil musste und dann in Amerika ganz von vorn begann, war bei uns immer präsent. Die Dreharbeiten in Polen fühlten sich für mich deswegen auch an wie eine Art Heimkehr. Das war, wenn auch geografisch nicht ganz korrekt, für mich eine Reise zurück in meine Familiengeschichte, die zu erleben ich wirklich nur dem Film zu verdanken habe.
Einige Szenen in »A Real Pain« wurden im Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek gedreht. Wie haben Sie den Besuch dort erlebt?
Ich war zuvor noch nie in einem Konzentrationslager und entsprechend im Vorfeld sehr angespannt. Zu wissen, dass wir in Polen drehen und nach Majdanek fahren würden, war für mich als Jüdin natürlich einer der Aspekte, die an diesem Film den größten Reiz auf mich ausübten. Aber je näher der Tag rückte, desto nervöser wurde ich. Ich bin ein ziemlich emotionaler Mensch und wusste, dass dieser Ort Gefühle in mir wecken würde, die sich nicht leicht aushalten lassen. Doch nichts hätte mich vorbereiten können auf die Wirkung, die das Betreten des Konzentrationslagers tatsächlich auf mich ausübte.
Weil die Emotionen noch intensiver waren, als Sie erwartet hatten?
Die Energie, die von diesem Ort ausging, war an Intensität nicht zu überbieten. Das Leiden der Menschen war so greifbar, so präsent. Zu wissen, was an diesem Ort damals passierte – und über was für einen langen Zeitraum –, ist ja schon in der Theorie fürchterlich. Doch wenn man dann dort steht, ist es kaum auszuhalten. Nicht nur für Jüdinnen und Juden, denke ich. Wenn ich an die aufgereihten Betten denke oder die Tausenden von Kinderschuhen, holt mich das auch jetzt sofort wieder ein. Dieser Ort ist so erschreckend gut erhalten und dabei kein bisschen touristifiziert, falls das ein Wort ist. Es wirkt eigentlich fast so, als seien gestern noch all diese Menschen dort gewesen. Ich möchte die Erfahrung, in diesem Konzentrationslager gewesen zu sein, nicht missen, aber sie war wirklich von quälender Eindringlichkeit.
Hatten Sie Bedenken, dort Szenen für einen Spielfilm zu drehen?
Nein, denn bei den Szenen handelt es sich nicht um Spielszenen im eigentlichen Sinn. Es gab keine Dialoge und keine Handlung, die das Drehbuch für den Besuch des Konzentrationslagers vorsah. Jesse ließ uns den Raum, einfach die Eindrücke auf uns wirken zu lassen. Die Kamera beobachtete bloß, was es für uns hieß, diesen Ort zu erleben, ganz ohne Dramatisierung oder Manipulation. Das fand ich sowohl für uns als auch für den Film sehr klug und wichtig.
Mit der Schauspielerin sprach Patrick Heidmann. Der Film »A Real Pain« läuft ab 16. Januar im Kino.