»Sie erscheinen auf der Oktoberheide, auf einem Rücken der Ebene, hinter dem es nichts zu geben scheint als immerzu treibende Wolkenmaserung: zwei Hundeschemen, dann der Hirte. Den Stecken in der Rechten, bleibt er im Gegenlicht.« So beginnt Markus Thielemanns Roman Von Norden rollt ein Donner, der für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert war.
Im Mittelpunkt steht der 19-jährige Jannes Kohlmeyer. Er ist Schäfer, wie schon seine Eltern und Großeltern, und zieht mit sogenannten Heidschnucken über die Lüneburger Heide. Doch es ist bei Weitem kein idyllisches Hirtenleben, und dies liegt weniger an Wind und Wetter als an einer Gefahr, die sich immer stärker ausbreitet: dem Wolf. Die Menschen in der Heide sind in Sorge, weil das einst ausgerottete Raubtier in der Umgebung wieder Schafe und Ziegen reißt. Auch Jannes und seine Familie befürchten, dass der Wolf bald ihre Tiere angreift.
Neben dieser Sorge hat Jannes Angst um seinen Vater. Der hat seit einigen Monaten wiederholt Aussetzer, die auf eine beginnende Demenz hindeuten. Jannes beobachtet dies mit Unbehagen, denn seine Großmutter Erika ist schwer dement und wohnt seit einiger Zeit im Pflegeheim. Sie erkennt ihre Angehörigen nicht mehr, lebt in der Vergangenheit. Norddeutsch knapp und nüchtern konstatiert der Großvater, dass es Jannesʼ Vater ähnlich ergehen werde wie der Oma: »Tja, bei Mutti wurd das auch nicht mehr besser.« Ja, man spricht nicht viel in Unterlüß. Thielemanns Beschreibung des Abendessens: »Auf dem Tisch steht Aufschnitt in einer großen Tupperbox, Käse und Wurst in Fettpapier. Ein Korb geschnittenes Sauerteigbrot. Sülze im Glas, zwei gekochte Eier in einer kleinen Schale.«
Ein Sittengemälde der norddeutschen Provinz
Der Roman steckt voller Lokalkolorit, er ist ein Sittengemälde der norddeutschen Provinz. Doch so knapp die Dialoge zwischen den Protagonisten auch sein mögen, so ausschweifend sind Thielemanns Beschreibungen des Wetters und der Natur, die Jannes umgibt: »Eine Böe zerrt an seiner Kleidung. Regen zischt durch die Luft. Krähen kämpfen im Windstrom, jagen mit ihm davon wie Geschosse, schlagen unmögliche Haken um die Wacholderbüsche. Wolken rauschen immerfort hinein in den östlichen Dämmer. Die Stämme des Birkenhains am Rand der Heide krümmen sich im Sturm, die Kronen fast kahl nun.« Man muss die Heidelandschaft mögen, um diese Beschreibungen nicht als langatmig zu empfinden.
Von Norden rollt ein Donner ist ein Roman voller Sorge, Furcht und Angst. Zu Jannesʼ Ängsten vor dem Wolf und denen um seinen Vater kommt die Sorge um sich selbst hinzu. Jannes wird neuerdings von Anfällen gepackt, wird ohnmächtig und hat Visionen von einer Frau, die wie eine Hexe aussieht. Was genau es damit auf sich hat, erschließt sich dem Leser – und auch Jannes selbst – lange nicht. Erst im letzten Teil des Buches wird klar, dass die Visionen mit seiner Großmutter zu tun haben. Und so kommt zur Suche nach den Spuren der Wölfe allmählich die Spurensuche nach einem Familiengeheimnis hinzu. Die demente Oma deutet in ihrem vermeintlich wirren Reden immer wieder ein Geheimnis aus der Zeit des Nationalsozialismus an. Jannes grübelt lange darüber nach, bis sich seine Gedanken verdichten und er den Großvater damit konfrontiert.
Spannend erzählt Markus Thielemann diese Geschichte wie ein Märchen von Wölfen, einer vermeintlichen Hexe und einer weissagenden Großmutter in einer Umgebung voller Nebel, Feuchte und Dunkelheit. Doch weil der Roman im Jahr 2014 spielt, verhandelt er auch Konflikte der Gegenwart, wie Neonazis, die sich in Dörfern niederlassen und sich die Angst der Bevölkerung vor dem Wolf zunutze machen, sowie »eine neue, eurokritische Partei, … die (verspricht), dieses Anliegen … ins Parlament zu bringen«.
Markus Thielemann: »Von Norden rollt ein Donner«. Roman. C.H. Beck, München 2024, 287 S., 23 €