Rosenstraße

Widerstand war möglich

Nehmen wir einmal an, wir würden erfahren, dass Anfang 1943 ganz gewöhnliche deutsche Zivilisten im Zentrum Berlins auf die Straße gegangen seien, nur wenige Häuserblocks entfernt von den gefürchteten Schaltzentralen des Nazi-Regimes, um spontan für Juden zu demonstrieren, die gerade von der Gestapo verhaftet worden waren und in die Vernichtungslager deportiert werden sollten.

Diese Geschichte ist nicht erfunden. Sie hat sich tatsächlich ereignet. Und doch kam sie – die einzige ihrer Art während des »Dritten Reichs« – jahrzehntelang in der Geschichtsschreibung und bei den Gedenkfeiern zum Widerstand nicht vor.

»fabrikaktion« Vergangene Woche jährte sich der Protest der Berliner Frauen in der Rosenstraße zum 70. Mal. Vom 27. Februar bis zum 6. März 1943 demonstrierten sie für die Freilassung ihrer verhafteten jüdischen Ehemänner. Für diese »arischen« Deutschen hatte die staatliche Autorität der Nazis jede Legitimität verloren. Wie nur wenige andere waren sie bereit, dies öffentlich zum Ausdruck zu bringen, auf der Straße, wo es alle sehen konnten. Nur sehr wenige unterstützten sie dabei. Trotzdem hatte der gewaltlose Protest Erfolg. Diese mutige Tat stellt die beruhigende, allgemein akzeptierte Interpretation infrage, wonach Widerstand gegen die nazistische Judenverfolgung zwar ehrenwert war, aber immer aussichtslos.

Der 27. Februar 1943 ist berüchtigt als Beginn der Aktion zur »Entjudung« des deutschen Reichsterritoriums. In verschiedenen Städten begannen an diesem Tag Verhaftungswellen unter den letzten noch lebenden deutschen Juden. In Berlin nahmen Gestapo und SS an jenem 27. Februar in der später sogenannten Fabrikaktion 2000 Berliner Juden, die in »privilegierten Mischehen« mit nichtjüdischen Partnerinnen lebten und deshalb noch nicht deportiert worden waren, an ihren Arbeitsplätzen fest. Als die ersten Gerüchte von den Verhaftungen in der Stadt kursierten, machten sich die Ehefrauen auf den Weg in die Rosenstraße.

Die Büroräume im Haus Nr. 2 bis 4, das der jüdischen Gemeinde als Wohlfahrtsamt diente, waren voll mit Gefangenen. Fünf bewaffnete SS-Leute bewachten den einzigen Eingang. Eine der Frauen, die am ersten Tag dort eintraf, kam in Begleitung ihres in Wehrmachtsuniform gekleideten Bruders; er hatte gerade eine Woche Fronturlaub. Der Bruder der Frau konfrontierte den SS-Wachposten: »Wenn mein Schwager nicht freikommt, gehe ich nicht an die Front zurück.«

zeitzeuginnen Elsa Holzer, eine der Zeitzeuginnen, die ich in den 80er-Jahren für meine Forschungsarbeiten zu der Protestaktion befragte, erinnerte sich, wie sie einige Tage nach der Verhaftung ihres Mannes Rudi zum ersten Mal in die Rosenstraße kam: »Ich hab’ gedacht, dass ich da alleine sein würde. Und ich sehe, wie ich dahin komme, dass da ein Auflauf ist. Die Leute fluten hin und her, schon früh um sechs! Die kleine Straße war voll! Ist ja bloß ‹ne kleine, enge Straße. Aber die war schwarz mit Menschen. Überwiegend Frauen, aber auch Männer.

Die Menge war wie eine Welle. Sie bewegte sich wie ein Körper, das war ein wogender Körper, das wuchtete da hin und her.«
Im Lauf der Woche drohte die Gestapo mehrmals, die mehreren Hundert demonstrierenden Frauen zu erschießen. Sie zerstreuten sich dann kurzfristig, flüchteten in Hauseingänge. Doch schnell stimmten sie wieder in ihren kollektiven Ruf ein: »Wir wollen unsere Männer wiederhaben!« Ein Gestapo-Mann, den dieser offene Protest der Frauen beeindruckte, sagte zu einem der inhaftierten Juden: »Ihre Verwandten protestieren draußen für Sie. Sie möchten Sie zurückhaben. Das ist deutsche Treue.«

Charlotte Israel, deren Ehemann Julius in der Rosenstraße inhaftiert war, erzählte Jahrzehnte später von jenem 6. März 1943, der schließlich die entscheidende Wende brachte, dass die Demonstration an diesem Tag einen immer politischeren Ton angenommen hatte. »Die Lage vor dem Sammellager spitzte sich zu. Die SS richtete Maschinengewehre auf uns: ›Wenn Sie jetzt nicht gehen, schießen wir!‹ Die Menge flutete unwillkürlich zurück, aber dann fingen wir erstmals an richtig zu brüllen. Nun war uns alles egal. Wir brüllten: ›Ihr Mörder!‹ Hinter den Maschinengewehren riss ein Mann den Mund groß auf. Vielleicht gab er ein Kommando. Ich habe es nicht gehört, es wurde übertönt. Dann geschah etwas Unerwartetes: Die Maschinengewehre wurden abgeräumt. Vor dem Lager herrschte jetzt Schweigen, nur noch vereinzeltes Schluchzen war zu hören.«

Aus anderen Berliner Sammellagern wurden unterdessen 7000 verhaftete Juden nach Auschwitz deportiert. In der Rosenstraße aber zögerte das Regime und gab schließlich nach: Am 6. März wurden die meisten der dort inhaftierten Juden wieder in die Freiheit entlassen. Selbst einige, die man bereits nach Auschwitz geschickt hatte, wurden zurückgebracht und überlebten so.

»Rassenschande« Die Protestaktion der Frauen in der Rosenstraße ist der Höhepunkt einer Geschichte von Erniedrigung, Diskriminierung, Einschüchterung und Androhung von Gewalt, der sich die Ehepartner, die in sogenannten Mischehen lebten, seit der Machtergreifung 1933 ausgesetzt sahen. Deutsche, die mit sogenannten Nichtariern verheiratet waren, verstießen gegen die nationalsozialistische Ideologie der Reinrassigkeit und auch gegen geltendes Recht. Seit den Nürnberger Gesetzen 1935 galt sexueller Verkehr von Juden und Nichtjuden als »Rassenschande« und wurde als Straftat verfolgt.

Und doch lebten weiter »gemischtrassische« Paare in einer Ehe miteinander. Die Richtlinien der Gestapo stellten zwar Juden mit »arischen« Familienmitgliedern »vorläufig« zurück von Deportation und Vernichtung, doch diese Schonung konnte jeden Augenblick enden. In seinem Dekret vom 5. November 1942 zur »Entjudung des Reiches« ordnete Heinrich Himmler an, dass auch »Halbjuden«, die in deutschen Konzentrationslagern inhaftiert waren, nun nach Auschwitz oder ins Arbeitslager nach Lublin deportiert werden sollten. Die Deportationen sollten »energisch« vorangetrieben werden, solange dies nicht »unnötige Schwierigkeiten« verursache, hatte Hitler Goebbels schon im November 1941 wissen lassen.

kriegslage Die Frauen in der Rosenstraße bereiteten dem diktatorischen Regime solche Schwierigkeiten. Hitler und Goebbels waren der Meinung, dass der erste Weltkrieg 1918 verloren gegangen war, weil die Heimatfront bröckelte. Ein vergleichbares Abrücken der Menschen zu Hause von der Nazi-Ideologie wollten sie verhindern. Besonders Hitler war zutiefst davon überzeugt, dass Popularität die erste Grundlage für die Schaffung von Autorität sei. Bereits in Mein Kampf hatte er erklärt, dass die Unterstützung durch das Volk die Hauptgrundlage politischer Macht sei.

Der Protest der Frauen in der Rosenstraße fiel auch in eine sehr heikle Phase des Krieges: Die 6. Armee war gerade in Stalingrad vernichtend geschlagen worden, und nur neun Tage, bevor die »Schlussaktion Berliner Juden« begann, hatte Goebbels im Berliner Sportpalast die Frage hinausgebrüllt: »Wollt ihr den totalen Krieg?«

Unter solchen Bedingungen mochte den Machthabern die Zurschaustellung öffentlichen Dissenses als empfindliche Schwächung des Staates erscheinen, zumal auch im Ausland der Widerstand der Berliner Frauen bekannt wurde. Die BBC nannte das, was da in der Rosenstraße stattfand, einen »fließenden Demonstrationszug«. Eine Depesche der amerikanischen Botschaft in Bern vom 1. April 1943 berichtete nach Washington: »Die Gestapoaktion gegen jüdische Ehefrauen und Männer musste wegen des durch sie ausgelösten Protestes aufgegeben werden.«

zurückweichen Es gab während des Krieges auch in anderen deutschen Städten öffentliche Proteste. Am 11. Oktober 1943 demonstrierten in Witten im Ruhrgebiet etwa 300 Frauen gegen die Behörden, welche ihnen Lebensmittelmarken verweigerten, um sie so zur Evakuierung zu zwingen. Gegen ebensolche Maßnahmen protestierten am darauffolgenden Tag auch in Lünen, Hamm und Bochum Frauen auf offener Straße. Wenngleich sich der Protest in diesen Fällen nicht, wie in der Rosenstraße, gegen die Verhaftung von Juden richtete, so ist all diesen Auflehnungen von Frauen doch gemeinsam, dass das Regime letztlich klein beigab.

Der deutsche Historiker Ekkehard Klausa schreibt: »Die These mag gewagt sein, aber sie ist vertretbar: Das auf Zustimmung der ›Volksgemeinschaft‹ gerade im Kriege angewiesene Regime hätte auf öffentliche und halb öffentliche Kritik an seiner Judenpolitik vorsichtig und vielleicht sogar zurückweichend reagieren müssen, so wie es auf die Galen-Predigten und den Frauenprotest in der Rosenstraße tatsächlich reagiert hat.«

Eine solche These ist deshalb »gewagt«, weil sie der über Jahrzehnte weit verbreiteten und etablierten Deutung widerspricht, dass Hitler und die Gestapo alles im Griff hatten. Ironischerweise hielt Hitler seine Macht gar nicht für so »total«, wie sie manchem Historiker heute scheinen mag. Um die Massen nicht zu entfremden, ging er bis zum Schluss Kompromisse ein. Die mutigen Frauen in der Berliner Rosenstraße haben bewiesen, dass auch unter den Bedingungen eines totalitären Systems erfolgreicher Widerstand möglich ist.

Nathan Stoltzfus ist Professor für Moderne Europäische Geschichte an der Florida State University in Tallahassee und Autor des Buchs »Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße 1943« (Hanser, München 1999).

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