60. Todestag Rabbiner Leo Baeck

Widerstand aus den geistigen Quellen

Rabbiner Leo Baeck Foto: Ullstein

Als Rabbiner Leo Baeck am 2. November 1956 in London im Alter von 83 Jahren starb, fand die Historikerin Eva G. Reichmann in ihrer Trauerrede wunderbare Worte der Erinnerung: »Mit unseren todgeweihten Menschen in der alten Heimat, mit ihrem Kampf und ihrem Elend verband er sich bis zum Ende. Er, dem die Tore der freien Welt offenstanden wie kaum einem Zweiten, er blieb zurück bei seiner Gemeinschaft. Seine ragende Gestalt, sein weisendes Wort, sein Lächeln aus Güte und tröstender Zuversicht – sie wuchsen damals über menschliches Maß hinaus, hinein in die Geschichte. Aus zahllosen persönlichen Berichten ist es uns verbürgt, wie seine Gegenwart allein den Gepeinigten zum Trost wurde. Nicht zum Geringsten ist es ihm, unserem Toten, zuzuschreiben, dass das Grauen, das unsere jüdischen Brüder und Schwestern überfiel, überstrahlt ist von der Glorie des Martyriums und jener Größe im Erdulden und Überwinden, die Leo Baecks Wesen waren.«

Diese Würdigung verleiht der Verehrung Ausdruck, die Leo Baeck als Symbolfigur des deutschen Judentums bis heute entgegengebracht wird. Es gab selbstverständlich auch kritischere Stimmen, darunter jene Hannah Arendts und Raul Hilbergs, die ihm vorwarfen, er habe sich während der Nazizeit als verantwortlicher Repräsentant der jüdischen Minderheit von den Machthabern instrumentalisieren lassen, jüdischen politischen Widerstand aktiv verhindert und sein frühes Wissen über die Vernichtungspolitik der Nazis für sich behalten.

Bei aller berechtigten historischen Diskussion über diese Fragen gilt es anlässlich des 60. Todestages Leo Baecks jedoch, an seine existenzielle Gratwanderung und Ohnmacht in dieser Zeit zu erinnern und der ihm möglichen Form des Widerstandes gerecht zu werden, die ihren Ausdruck vor allem im Religiös-Kulturellen fand.

Autorität Dass Baeck 1933 die Leitung der »Reichsvertretung der deutschen Juden« anvertraut wurde, ist darauf zurückzuführen, dass er damals als die einzige Integrationsfigur erschien, die die jüdische Gemeinschaft in der zunehmenden Bedrängnis zusammenhalten und gegenüber den Nazis mit Autorität vertreten konnte. Bereits Jahrzehnte zuvor hatte er sich einem Projekt verschrieben, das alle Wurzeln seines spirituellen Widerstands gegen das Nazi-Regime enthielt.

Gegen die Herabwürdigung des Judentums durch protestantische Theologen hatte er eindringlich eine gerechte Darstellung jüdischer Religion, Geschichte und Kultur und das Recht jüdischer Gelehrter eingefordert, an deren Erforschung gleichberechtigt mitzuwirken.

Sein zuerst 1905 und dann 1922 in überarbeiteter Fassung erschienenes Buch Das Wesen des Judentums ist eine fulminante Verteidigungsschrift, die das Judentum als legitimen Teil einer modernen pluralistischen Gesellschaft und zugleich als zukunftsweisenden, universalen und humanen Glauben beschreibt.

Judentum Das Christentum erinnerte Baeck in diesem Zusammenhang an die Herkunft Jesu aus dem pharisäischen Judentum und daran, dass es sich nur aus seinen jüdischen Wurzeln heraus angemessen verstehen könne. Während der Nazizeit gewann seine Beanspruchung Jesu für das Judentum und seine These vom Evangelium als »Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte« eine ungeahnte politische Dimension.

In Baecks Äußerungen nach 1933 ist die Kritik an den Nazis unüberhörbar. So veröffentlichte er zwischen 1933 und 1939 im Schocken-Almanach regelmäßig Aufsätze theologischen oder philosophischen Inhalts, die implizit auf die Verfolgungssituation Bezug nahmen und den bedrängten deutschen Juden eine Sprache für ihren Protest und ihren spirituellen Widerspruch gegen die NS-Herrschaft zur Verfügung stellten.

Das berühmteste Beispiel seiner vielen Botschaften des Trostes und Aufrufens zur geistigen Standhaftigkeit ist ein am 15. September 1935 – kurz nach Erlass der »Nürnberger Rassengesetze« – verfasstes Kol-Nidre-Gebet, das nach Baecks Willen am 6. Oktober, dem Vorabend von Jom Kippur, in allen Synagogen verlesen werden sollte und das zu seiner zeitweiligen Verhaftung führte.

In diesem traurigen, stolzen, würdevollen Gebet, das der Verzweiflung über die Zuspitzung der antisemitischen Entrechtung das Vertrauen auf Gottes Nähe und die Gewissheit der religiösen und kulturellen Kreativität des verleumdeten Judentums entgegenstellt, wird der Zusammenhang zwi- schen Baecks theologischer Interpretation des Judentums und seinem Versuch der Stärkung der jüdischen Gemeinden in den 30er-Jahren erkennbar.

Menschenrechte Zugleich wird in dem Ton des Abscheus und dem Akzent auf der Rolle des Judentums als des Schöpfers des Prinzips der Achtung vor den Menschenrechten ein unüberhörbarer Protest gegen das Regime laut: »In dieser Stunde steht ganz Israel vor seinem Gott, dem richtenden und vergebenden. ... Mit derselben Kraft, mit der wir unsere Sünden bekannt, die Sünden des Einzelnen und die der Gesamtheit, sprechen wir es mit dem Gefühl des Abscheus aus, dass wir die Lüge, die sich gegen uns wendet, die Verleumdung, die sich gegen unsere Religion und ihre Zeugnisse kehrt, tief unter unseren Füßen sehen. Wir bekennen uns zu unserem Glauben und zu unserer Zukunft. Wer hat der Welt das Geheimnis des ewigen, des einen Gottes gekündet? Wer hat der Welt den Sinn für die Reinheit der Lebensführung, für die Reinheit der Familie geoffenbart? Wer hat der Welt die Achtung vor dem Menschen, dem Ebenbilde Gottes gegeben? Wer hat der Welt das Gebot der Gerechtigkeit, des sozialen Gedankens gewiesen? ... In unserem Judentum ist es erwachsen und wächst es. An dieser Tatsache prallt jede Beschimpfung ab.«

Die Einforderung der Achtung vor der religiösen und zivilisatorischen Leistung des Judentums, die in diesem Gebet zur Sprache kommt, muss als geistiger Widerstand gelten, auch wenn Baeck damit der politischen Ohnmacht nicht zu entgehen vermochte. Ähnliches lässt sich über sein späteres seelsorgerisches Wirken in Theresienstadt sagen, über seine Vorträge über Geschichte und Philosophie, mit denen er seinen Mitgefangenen vor Augen zu führen suchte, dass sie inmitten der von den Nazis beabsichtigten Entmenschlichung Menschen blieben, die der Gewalt und Enge des Lagers nicht vollständig ausgeliefert waren.

Als Baeck 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde, hatte er das erste Kapitel zu seinem Buch Dieses Volk. Jüdische Existenz im Gepäck. Er hatte es 1940 begonnen, arbeitete im Lager handschriftlich daran weiter und vollendete es erst wenige Tage vor seinem Tod. Gewidmet ist dieses »im Lager der Verschleppten« entworfene Buch dem Andenken an seine 1937 verstorbene Frau Natalie.

Freiheit Dieses Werk, das auch als »Midrasch aus Theresienstadt« charakterisiert worden ist, ist Baecks theologisches Vermächtnis nach der Schoa, ein Dokument eindrucksvoller Freiheit des Denkens inmitten der existenziellen Bedrohung, der er auch persönlich ausgesetzt war, zugleich ein subversives theologisches Dokument, das der Gewalt des Nazi-Regimes das Festhalten am Sinn jüdischer Existenz entgegensetzt. Es spiegelt Baecks tiefe religiöse Überzeugung wider – die ihn ganz offenbar durch das Leid, über das er nach dem Krieg nie gesprochen hat, getragen hat und die ihm als die einzige ihm mögliche Form geistigen Widerstands gegen die Vernichtung erschien.

Dieses Volk erzählt den Weg des jüdischen Volkes durch die Geschichte und begründet eine selbstbewusste Theologie der göttlichen Erwählung Israels, die Protest einlegt gegen die christliche Judenfeindschaft ebenso wie gegen die nationalsozialistische Vorstellung einer Erwählung der »arischen Rasse« zur Weltherrschaft.

Gerade das von den Nazis zum »Gegenvolk« und zur »Gegenrasse« erkorene jüdische Volk ist das erwählte messianische Volk, in dem die Hoffnung der Menschheit auf eine Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit begründet liegt, dessen Tradition die Gleichheit aller Menschen betont, das in der Geschichte auch unter den bedrückendsten Bedingungen an Gott, dem »Hüter des Menschenrechts und des Humanen«, festgehalten hat.

Schoa Es ist ein Buch, in dem die Hölle der Lager auf den ersten Blick abwesend erscheint und in dem doch viele kleine Spuren von den existenziellen Erfahrungen der in die Lager Deportierten zeugen. Es ist sich der Leiden der Toten und Überlebenden der Schoa schmerzlich bewusst, hält jedoch der Verzweiflung die Überzeugung entgegen, »stärker als das« sei im Judentum der Trost, die Hoffnung, »dass Trümmer und Staub und Asche kein Letztes sind«.

Baeck schreibt eine Religionsphilosophie des Trostes, die mit einem Kapitel endet, das den Weg von der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 über die Entwicklungen der Moderne bis in die Zukunft jüdischer Existenz im neuen Staat Israel und in der amerikanischen Diaspora unter der Überschrift »Die Hoffnung« erzählt – und doch steht mitten darin eine Passage, die von brennenden Synagogen und zerstörten Gemeinden redet und in wenigen Worten das Grauen andeutet: »Hunderttausende, Menschen dieses Volkes, Menschenleben, in denen eine Seele war, wurden vernichtet.«

Leo Baecks Vermächtnis nach 1945 ist das Bekenntnis zum Gott des Exodus, der sein erwähltes Volk durch alle Verhängnisse hindurch durch die Geschichte führt. In einem Artikel mit dem Titel »Warum sind die Juden in der Welt? Eine Bekräftigung des Glaubens an Israels Bestimmung« fasste er noch einmal zusammen, was er den Verfolgern wie den Verfolgten unermüdlich hatte nahebringen wollen – dass dem Volk, das die Nazis vom Antlitz der Erde entfernen wollten, von Gott her Zukunft und Sinn bestimmt sei: »Warum gibt es Juden und Judaismus in der Welt? … Sie sind in der Welt, auf dass die Menschheit in ihrer Vielfalt nicht vergessen möge, was Einheit und was Wahrheit ist, nicht vergessen möge, dass Gerechtigkeit und Liebe allein den Weg bereiten, nicht ihre Aufgaben und Ziele vergessen möge, die in der Errichtung des Reiches Gottes liegen. ... Sie sind in der Welt als Zeugen – und hier wird jeder Zeuge zum Herold und jeder Herold zum Pionier. Sie sind in der Welt als Zeugen, Herolde und Pioniere des Einen Gottes.«

Der Autor ist Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt/Main.

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