Herr Balder, Herr Dreksler, Sie haben Ihrem Auftritt bei der lit.Cologne den Titel »Sag mal, bist du etwa Jude?« gegeben. Wie kam es dazu?
Dreksler: Diese Frage habe ich Hugo bei unserer ersten Begegnung Anfang der 80er-Jahre bei Radio Luxemburg gestellt. Er zuckte zusammen, hatte sich als Schauspieler aber voll im Griff, zog nur an seiner Reyno und sagte: »Wieso, hast du was gegen Juden?« Ich habe mit dem Feuerzeug geschnippt und gesagt: »Ja, Gas.« Da gaben wir uns high five, weil er sofort gemerkt hat, das kann nur ein Jude sein, der so einen alten SS-Kalauer bringt. Ab da haben wir uns hervorragend verstanden. Ich hatte ihn an zwei winzigen Silberspitzen erkannt, die aus seinem T-Shirt lugten – den Magen David.
Dieses Kennenlernen beschreiben Sie am Anfang Ihres Buches. Man bleibt an der Stelle sofort hängen und schluckt.
Dreksler: Sollen Sie ja auch. Der entscheidende Punkt ist, dass man mit dieser schrecklichen Nummer versucht, sich von sich selbst und seiner Herkunft zu distanzieren und zu zeigen: Mich ficht das alles nicht an. Was natürlich nicht stimmt. Jüdischer Humor ist speziell.
Balder: Und den haben wir beide ziemlich ausgeprägt. Solche Witze dürfen nur Juden machen, ein anderer darf das nicht. Bei Jacky hatte ich von Anfang an das Gefühl, wir kennen uns schon ewig. Das ist mir nie wieder passiert. Hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass wir beide diesen jüdischen Stammbaum haben.
Sie sprechen in Köln über Jüdischsein in Deutschland. Wie kamen Sie auf die Idee, mit einem solchen Thema auf die Bühne zu gehen?
Dreksler: Das Thema hat sich der Veranstalter zusammen mit dem Verlag ausgedacht. Anlass ist mein Buch, das vergangenen Monat erschienen ist, in dem es um mein jüdisches Leben geht, meine Mutter, die Auschwitz überlebte, und meine Ziehmutter, die mich nach dem Krebstod meiner Mutter zum Katholizismus zwang.
Sie bezeichnen sich beide als atheistische, nicht praktizierende Juden. Inwiefern spielt Jüdischsein für Sie eine Rolle?
Balder: Als meine Oma noch lebte, war ich als Kind jeden Freitag in der Synagoge. Als sie gestorben war und ich älter wurde, hat sich alles auseinander dividiert. Die Distanz zur Religion wurde immer größer. Das war eine andere Zeit damals. Ich war Musiker, Schauspieler und wollte frei sein, leben.
Ihre Mutter war Jüdin, hatte das KZ Theresienstadt überlebt. Selbst im Seniorenheim wollte sie nicht, dass jemand weiß, dass Sie jüdisch ist. War da noch Angst?
Balder: Ja, große Angst, dass es noch einmal wiederkommt. Auch zu mir hat sie immer gesagt: Halt bloß den Mund! Sie wollte nicht auf dem jüdischen Friedhof beerdigt werden.
Dreksler: Bei mir war es anders, weil mein Vormund mit mir hausieren gegangen ist, mit dem armen kleinen Judenjungen, dem es so schlecht ergangen ist. Dadurch hat sie Almosen eingesammelt. Mir war das peinlich, weil ich wie ein Zirkuspferd vorgeführt wurde, und unangenehm, weil ich schon als Kind wusste, dass es Antisemitismus gibt.
Herr Balder, hat Ihre Mutter über ihre Zeit im KZ Theresienstadt gesprochen?
Balder: Das Thema war bei uns tabu. Sie hat nicht darüber gesprochen. Ich konnte noch so viel fragen.
Hat Sie dieses Schweigen geprägt?
Balder: Ja. Es fällt mir sehr schwer, Gefühle zu zeigen. Das habe ich von meiner Mutter. Sie hat das auch nie gemacht, da konnte kommen, was wollte. Ich habe meine Mutter zweimal weinen sehen. Einmal, als meine Oma überfahren wurde, und einmal als mein Vater starb. Heute verstehe ich das. Nach allem, was diese Frauen im KZ erlebt haben. Was gibt es da noch Schlimmeres?
Herr Dreksler, bei Ihnen zu Hause wurde über die KZ-Zeit gesprochen.
Dreksler: Meine Mutter erzählte dauernd Geschichten aus dem KZ. Ich bin damit groß geworden. Als Vierjähriger wusste ich schon, wie lange ein Jude in der Gaskammer nach Luft schnappt. Ich wusste, was im KZ passierte und habe das als kleines Kind als etwas Selbstverständliches aufgenommen. Meine Mutter war in der Zeit nach dem Krieg todkrank. Es war eine tiefe Angst in ihr, dass es Ghettos und KZs auf jeden Fall wieder geben würde. Ich musste alles lernen – kochen, bügeln, bohnern, waschen, Knöpfe annähen, Strümpfe stopfen, lesen – weil sie mich fit machen wollte für ein Leben, das mir als Jude bevorstehen würde. Im KZ oder im Waisenhaus.
Sie hat Geschichten erzählt, aber nicht über Gefühle gesprochen, schreiben Sie in Ihrem Buch.
Dreksler: Sie hat KZ-Geschichten erzählt, um mich zu erziehen. Wenn ich zum Beispiel wegen irgendetwas jammerte, sagte sie, wenn du ein Problem hast, lös’ es oder akzeptier’ es. Aber hör’ auf zu jammern. Jammern war überhaupt keine Option bei ihr.
Balder: Das war bei mir genauso. Meine Mutter hat mir schon in frühester Kindheit klargemacht, bei allem, was ich zu lamentieren hatte, dass es das nicht wert ist. Wenn ich mal irgendetwas hatte, einen kleinen Liebeskummer in der Jugend, dann hatte ich keine Chance bei ihr. Nicht, dass sie mich mal tröstend in den Arm genommen hätte. Sie hat nur gesagt: »Das ist alles Pippifax.« Sie wollte mir nicht sagen, was es alles Schlimmeres gibt. Aber sie hat es gewusst, weil sie es erlebt hatte. Das hat mich geprägt.
Wie wirkte sich das aus?
Balder: Ich bin sehr pragmatisch. Wenn etwas aufhört im Beruf, eine Fernsehsendung, eine Zusammenarbeit, dann trauere ich dem nicht nach, rege mich nicht auf. Sondern ich hake sofort ab und widme mich dem Nächsten. Das hat den Nachteil, dass man sich natürlich auch anderen Leuten gegenüber verschließt. Sie nicht an sich heranlässt, sich nicht richtig öffnet. Deswegen sind auch meine vier Ehen in die Grütze gegangen.
Herr Dreksler, als Ihre Mutter starb, waren Sie neun. Was hat Sie Ihnen mitgegeben?
Dreksler: Sie hat mir auf dem Sterbebett gesagt: »Werd’ ein guter Jude, lern einen guten Beruf, in dem du Menschen helfen kannst, am besten Arzt oder Rechtsanwalt, und vor allem, versuch, glücklich zu werden!«
Was ist daraus geworden?
Dreksler: Das ist eine lange und komplizierte Geschichte, über die ich das Buch geschrieben habe. Ich habe es am Ende geschafft, glücklich zu werden, weil mir erstens die Philosophie Epikurs und des Kritischen Rationalismus Poppers geholfen haben. Zweitens, weil ich beschlossen habe, zu verzeihen. Nicht länger diese unbändige Wut in mir herumzutragen, sondern ein glückliches Leben zu führen. Damals – mit Anfang 20 – habe ich die Informationen über meine Kindheit zusammengetragen und mir Notizen gemacht – aber schließlich beiseitegelegt.
Warum haben Sie jetzt das Buch geschrieben?
Dreksler: Meine Tante Jutta aus Amerika meinte damals schon, ich sollte das alles aufschreiben. Aber es wurde mir zu viel. Ich hatte keine Lust, immer wieder in dieser braunen Scheiße herumzurühren und mein Leben dadurch vergiften zu lassen. Der Verleger Alfred Neven DuMont hat mich dann überzeugt, dass diese Dinge nicht in Vergessenheit geraten dürfen.
Wie war die intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit für Sie?
Dreksler: Für mich war es eine sehr zwiespältige Gefühlssituation. Einerseits bin ich da sehr nüchtern herangegangen, wie ein Journalist, der akribisch recherchiert. Ich habe überprüft, was in den Akten stand, denn vieles hatte mein Vormund mir und anderen vorgelogen, um an Geld zu kommen und ihr krankhaftes Helfersyndrom auszuleben. Andererseits kam zwischenzeitlich die alte Wut hoch. Aber ich habe mich dann so im Griff, dass ich das intellektuell bewältigen kann.
Auf welche Weise haben Ihre Mütter Ihr Leben noch weiter beeinflusst?
Balder: Meine Mutter hat immer zu mir gesagt, ich soll über Sachen lachen. Dann sind sie auszuhalten.
Dreksler: Mir haben oft die talmudischen Witze geholfen, die meine Mutter gerne erzählt hat. Was mir am meisten geholfen hat, ist die Tatsache, dass sie all dieses Leid erfahren hat. Ich habe früh erkannt, dass meine Probleme unendlich klein waren im Verhältnis zu ihren.
Ist die Zeit reif, Fragen über Jüdischsein in Deutschland zu stellen?
Balder: Die ist immer reif.
Dreksler: Genau. Vor allem sollten wir die Probleme mit anderen religiösen oder ethnischen Gruppen rational angehen. Ob syrische Flüchtlinge, nordafrikanische Asylanten, Juden in irgendeinem Land: Seit Jahrtausenden sind es die gleichen falschen Denkmechanismen und Vorurteile, mit denen Menschen ausgegrenzt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Es heißt: Sie schaden uns, sie wollen uns etwas wegnehmen, sie beten einen anderen Gott an, sie sind minderwertig. Am äußersten rechten Rand der AfD hört man mal wieder die Sprache des Unmenschen, die andere als Schädlinge definiert. Juden sollten sich jetzt nicht selbst bespiegeln und in der Opferrolle sehen, sondern aktiv werden, um Menschen einer anderen Kultur, einer anderen Religion zu verstehen und zu akzeptieren. Wer könnte deren Probleme besser analysieren und verstehen, als Juden in Deutschland? Sie haben all diese Leiden ja selber erfahren.
Herr Balder, abschließend ein paar Worte über Ihren Freund?
Balder: Jacky ist um vieles gebildeter als ich. Als ich ihn kennenlernte, gab es noch kein Internet – aber er war mein Google. Und er darf mir die Leviten lesen. Wir arbeiten in schöner Form zusammen, auch wenn wir oft verschiedener Meinung sind. Wir sind sehr unterschiedlich. Ich schreie auch mal Mitarbeiter an, er setzt sich lieber drei Stunden mit ihnen zusammen und redet. Vielleicht kommt noch hinzu, dass ich aus Berlin komme. Da sind sie eh alle ein bisschen schneller. Auf jeden Fall schneller als die Kölner.
Dreksler: Ja, mit dem Maul, aber wenn das Gehirn nicht nachkommt, nutzt das ja nichts.
Balder: Dafür hab ich ja dich.
Machen wir weiter Komplimente: Herr Dreksler! Herr Balder ist für Sie ...?
Dreksler: Hugo ist der großzügigste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Und er kann unglaublich viel. Der Mann schauspielert, führt Regie, beim Film, auf der Bühne, spielt Klavier und Schlagzeug. Ich habe eine Menge von ihm gelernt, er hat mir viel geholfen. Ich verdanke ihm einen Großteil meiner Karriere, weil ich durch ihn an Menschen heran gekommen bin, die gut fanden, was ich machte. Ich habe ihn seit unserem ersten Treffen bei Radio Luxemburg immer bewundert, habe es ihn nur nicht merken lassen
Mit den beiden Comedians sprach Annette Kanis.
Jacky Dreksler
Jacky Dreksler (Jahrgang 1946) kam in einem französischen Gefängnis auf die Welt. Seine Mutter, die Auschwitz überlebt hatte, war aufgrund einer Verwechslung inhaftiert. Nach Abendschule, Pädagogikstudium und Lehrertätigkeit wird er Segel- und Gitarrenlehrer, Journalist, Comicautor, Gagschreiber und Liedtexter. Im Comedy- und Unterhaltungsbereich hat er vielfältige Erfolge als Fernsehproduzent.
Hugo Egon Balder
Hugo Egon Balder (Jahrgang 1950) ist Sohn einer jüdischen Mutter, die das KZ Theresienstadt überlebte, und eines katholischen Vaters. Nach der Schauspielschule begann er am Schiller-Theater Berlin, ging zu Radio Luxemburg und wurde bekannt mit der RTL-Sendung »Tutti Frutti«. In den 90er-Jahren machte er, gemeinsam mit Dreksler, Comedy mit der erfolgreichen »RTL Samstag Nacht« bekannter und populärer. Ein Quotenhit war auch die Quiz-Show »Genial daneben«. Hugo Egon Balder zählte zum Ensemble des Düsseldorfer Kabaretts Kom(m)ödchens, ist als Fernseh- und Theaterschauspieler tätig und betreibt in Hamburg eine Kneipe.