Biografie

Wer war Leo Baeck?

Michael A. Meyer zeichnet ein vielschichtiges Porträt des liberalen Rabbiners, Intellektuellen und Funktionärs

von Tobias Kühn  22.10.2021 08:29 Uhr

Foto: PR

Michael A. Meyer zeichnet ein vielschichtiges Porträt des liberalen Rabbiners, Intellektuellen und Funktionärs

von Tobias Kühn  22.10.2021 08:29 Uhr

Er wollte »der letzte Jude« sein, der Deutschland verlässt. Anderen bei der Auswanderung zu helfen, war für ihn der wichtigste Grund zu bleiben. Bekannt ist Leo Baeck heute vor allem wegen seiner politischen Funktionen während des »Dritten Reichs«. Als Präsident der »Reichsvertretung der deutschen Juden« war er Sprecher der jüdischen Gemeinde in dunkelsten Zeiten und gilt als Ikone der deutsch-jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die vielen Ämter, die man ihm im Laufe seines Lebens anvertraute, hat er wohl nie angestrebt – im Gegenteil: Zeitgenossen berichten, dass er dazu gedrängt werden musste.

Wer war Leo Baeck? Der deutsch-amerikanisch-jüdische Historiker Michael A. Meyer legt eine anschauliche Biografie des liberalen Rabbiners, Intellektuellen und Funktionärs vor: Leo Baeck. Rabbiner in bedrängter Zeit. Als emeritierter Professor für Jüdische Geschichte am Hebrew Union College in Cincinnati und langjähriger Präsident des Leo Baeck Institute hat Meyer das große Standardwerk Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit (1996/97) herausgegeben und war an der Herausgabe von Leo Baecks Schriften beteiligt. Er gilt als einer der besten Kenner von Baecks Leben und Werk.

Familie Geboren 1873 in einer Kleinstadt bei Posen, war Leo Baeck das einzige von elf Kindern einer Rabbinerfamilie, das eines Tages selbst Rabbiner werden würde. Sein Familienname (der sich ursprünglich Bäck schrieb) soll ein Kürzel für »Ben Kedoschim« sein: »Nachfahre von Heiligen«. Dies bezieht sich auf Juden, die den Namen Gottes heiligten, indem sie lieber starben, als ihrem Judentum abzuschwören. »Der Familienüberlieferung zufolge war einer von Baecks mittelalterlichen Vorfahren ein solcher Märtyrer«, schreibt Meyer.

Die Erinnerung daran könne für die Bedeutung des Martyriums in Baecks Schriften durchaus eine Rolle gespielt haben. Baecks »psychische Disposition« sei »von einer tiefen Verehrung des Märtyrertums geprägt« gewesen.

Diesen Aspekt seiner Persönlichkeit dürfe man »nicht außer Acht lassen, wenn man Leo Baeck verstehen will« – jenen Leo Baeck, der tatsächlich tat, was er predigte. Jenen Leo Baeck, der standhaft mit der Gestapo verhandelte, anderen zur Auswanderung aus Nazideutschland verhalf, es aber aus einem Gefühl von Pflicht und Verantwortung heraus ablehnte, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Jenen Leo Baeck, der ab Januar 1943 im Ghetto Theresienstadt anderen Lagerinsassen beistand. »Er gab ihnen das Gefühl, dass sie mehr waren als nur die Transportnummer, die sie bei ihrer Deportation erhalten hatten«, schreibt Meyer.

STUDIUM Baeck war 17 Jahre alt, als er sein Elternhaus verließ und zum Studium am Jüdisch-Theologischen Seminar nach Breslau ging. Sein Vater hatte ihn in den jüdischen Quellen geschult. »Auf diese Weise verband sich Leo Baecks Liebe zu seinem Vater eng mit der Liebe zur jüdischen Tradition«, schreibt Meyer.

Nach zwei Jahren wechselte Baeck ans liberale Rabbinerseminar nach Berlin, an die »Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums«. Wie schon in Breslau, schrieb er sich auch dort an der Universität im Fach Philosophie ein. Darüber hinaus belegte er Kurse an einer orthodoxen Jeschiwa.

»Er bemühte sich darum, ein tiefes Bewusstsein für das jüdische Erbe zu bewahren und zugleich die jüdische Lehre mit universellen Werten in Einklang zu bringen«, so Meyer. Baeck sehnte sich nach Ausgleich und war in der Lage, zwischen unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen zu vermitteln – dies prädestinierte ihn später für seine politischen Aufgaben.

Meyer hat unzählige Quellen studiert, darunter einige, die erst in den vergangenen Jahren ans Licht gekommen sind. Es gelingt ihm, ein vielschichtiges und sehr nuanciertes Bild von Leo Baeck zu zeichnen und den Menschen hinter der Ikone sichtbar zu machen. Wer Baeck und die deutsch-jüdische Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstehen will, muss dieses Standardwerk lesen.

Michael A. Meyer: »Leo Baeck. Rabbiner in bedrängter Zeit. Eine Biographie«. Übersetzt von Rita Seuß. C.H.Beck, München 2021, 365 S., 32 €

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025

Glosse

Ein Hoch auf die Israelkritik

Der »Spiegel« hat mit dem indischen Essayisten Pankaj Mishra ein »erhellendes« Interview zum Nahostkonflikt geführt

von Michael Thaidigsmann  18.02.2025

Gaza

Erstes Lebenszeichen von David Cunio

Der 34-Jährige Israeli ist seit dem 7. Oktober 2023 Geisel der Hamas – bei der Berlinale wird an an den Schauspieler erinnert

 18.02.2025