Fernsehen

Wer kann uns schützen?

Das Ausmaß des Antisemitismus im Alltag, seine Bandbreite und Tragweite: Richard C. Schneiders neue, sehenswerte, wenngleich auch bedrückende Dokumentation Die Sache mit den Juden thematisiert in einer verdichteten, zugleich veranschaulichenden und analytisch gut eingebetteten Form all das, was viele von uns von sich weisen, weil man es nicht glauben möchte und weil das Leben in Deutschland mit diesen Erkenntnissen noch schwerer erscheint.

Die vierteilige Dokumentation schildert eindrücklich die zunehmenden Unsicherheiten, den fehlenden Schutz der Juden in Deutschland sowie Frustration, Traurigkeit, Wut und Verzweiflung über den zunehmenden Antisemitismus allerlei Couleur, die viel zu schwachen Reaktionen und mangelnde Anteilnahme der Mehrheitsgesellschaft.

Antisemitische Taten werden oft nicht als solche anerkannt.

Im Judentum gibt es die Idee, dass wir unsere Wahrnehmungsfilter unterschiedlich gewichten können. Sie ähneln metaphorisch einem Sieb. Es gibt unterschiedliche Siebarten: solche, die nur das Wertvolle, Kostbare und besonders Schöne nach dem Filtern behalten, und solche, die das ausgeprägt Negative, Schlimme und Dreckige auffangen. Wir alle haben die Freiheit, eine passende Siebart zu wählen.

Doch fällt es in der Geschichte der jüdischen Diaspora schwer, unter der permanenten Kulisse antisemitischer Bedrohung und Diskriminierung, diese »herauszufiltern«, ihnen keine große Bedeutung beizumessen und jedes Mal so vertrauensvoll und selbstsicher zu agieren, als ob es den Antisemitismus nicht gäbe.

BESCHWICHTIGUNG Und wie können wir aus unserer langen Verfolgungsgeschichte lernen, wenn wir jedes Mal aufs Neue nicht glauben wollen, dass es gerade wieder tatsächlich passiert, obwohl man gerne glauben möchte, dass die heutige Gesellschaft im Gegensatz zu allen in der Vergangenheit zuvor eine andere ist? Man beschwichtigt sich gegenseitig, dass die Verfolgung nach all den Gräueltaten und dank zahlreich beschworener geschichtlicher Verantwortung nicht möglich ist.

Doch wie die Dokumentation zeigt, wird die Würde und die Grenze des Akzeptablen in Wort und Tat immer öfter überschritten und bleibt meist unbestraft.
Schneiders Dokumentation veranschaulicht und vergegenwärtigt die alte These, dass Juden nicht dank der Aufnahmegesellschaften, sondern trotz der Diskriminierung, die von ihnen ausgeht, (über)leben.

So erfährt man, dass die Gerichtsurteile zu israelfeindlichen Straftaten, die trotz aller Deutlichkeit des Israel- und Judenhasses nicht als Antisemitismus eingeordnet werden, als Applaus an die Täter verstanden werden. Auffallend ist auch die Diskrepanz zwischen den großen Worten der Politik und dem von den Betroffenen berichteten fehlenden Schutz vor Antisemitismus im Alltag.

Antisemitische Taten werden oft nicht als solche anerkannt. Die Kreativität und Vehemenz, mit denen sie trivialisiert, relativiert oder zunichtegemacht werden, ist immens. Aus der einschlägigen Expertise der interviewten Personen gehen die zahlreichen offenen und enthemmten sowie verschleierten Facetten des Judenhasses in der neuen, »besseren Verpackung« des Rechtspopulismus oder der sogenannten Israelkritik hervor.

Durch die Frage, wer sich an der Existenz der Juden in dieser Welt gestört und bedroht fühlt, entsteht die Bindung durch eine Weltanschauung sowie ein imaginiertes »Wir« – sei es die homogenisierte muslimische Bruderschaft oder die »Neue Deutsche Nation«. Es geht um das zornerfüllte »Wir«, die nach Adorno »sich in den Schmelztiegel des Kollektiv-Ichs werfen« oder versuchen, den eigenen beschädigten kollektiven Narzissmus zu reparieren und die Sehnsucht nach einer »größeren« und »mächtigeren Nation« mit Täuschungsversprechungen zu befriedigen.

PRÄMISSEN Aus den Schilderungen der Experten über die Mechanismen des Antisemitismus lassen sich einige für unseren Zeitgeist typische Prämissen in ihrer Tragweite hinterfragen, die antisemitische Gewalt legitimieren können. Eine Prämisse lautet, dass ein Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg als überwundenes Phänomen gilt, das zur Vergangenheit gehört und fast schon ein nationalsozialistisches Gedankengut bedeutet, von dem sich die meisten deutlich distanzieren wollen.

Es entsteht eine Kakophonie verschiedener Opferkonkurrenzen.

Demzufolge werden die vielen Vorfälle nicht als ein »richtiger« Antisemitismus verstanden, den es im eigenen Umfeld nicht geben darf oder kann. Während Juden, sich verzweifelt nach Solidarität sehnend, immer wachsam bleiben müssen und das dösende oder zögernde Umfeld am liebsten wachrütteln würden, herrscht in der Mehrheitsgesellschaft immer wieder ein sachlicher, scheinbar neutraler und nüchterner Zweifel.

Die zweite Prämisse betrifft den Anspruch auf Gerechtigkeit und historische Verpflichtung, sich im Namen von Schuld und Scham auf der Seite der Minderheiten – also pro-palästinensisch – zu positionieren, den Tabubruch zu inszenieren und sich dabei als »Rebellen«, für die gute Sache kämpfend, zu verstehen.

Die dritte Prämisse postuliert die höchste Stellung der Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft, durch die der Anspruch erhoben wird, jegliche Meinung zu respektieren und wertzuschätzen. Anderenfalls gilt man als autoritär oder diskriminierend. Was passiert aber, wenn die Meinung antisemitisch ist?

Eine weitere Prämisse betont, dass Leiden und Verbrechen ein allgemeinmenschliches Phänomen und demensprechend universell und vergleichbar sind. So würde sich die Schoa mit kolonialen oder anderen Verbrechen zusammen diskutieren lassen, und alle Gruppen würden sich erst dann angesprochen fühlen. Als Folge, es allen gleichzeitig recht machen zu wollen, entsteht im besten Fall eine Kakophonie vielfältiger Opferkonkurrenzen, in der ein Vergleich des eigenen Leids mit dem Leid der Juden in der Schoa gewagt wird. Die Thematisierung antisemitischer Gewalt wird dabei als ermüdend und moralisierend empfunden.

Es bleibt zu hoffen, dass die von Richard C. Schneider gesammelten Fakten und Interpretationen breite Resonanz finden – und dass der Antisemitismus endlich als Bedrohung in all seinen Facetten wahr- und ernst genommen wird, sodass Konsequenzen folgen.

Die vierteilige Dokumentation ist in der ARD-Mediathek zu sehen.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025