Oleg saß im Café Leonar, hinten in der Ecke, wo es in den Keller zu den Toiletten geht. Er machte ein düsteres Gesicht. Oleg sitzt immer dort, und er macht immer ein düsteres Gesicht, wenn jemand auf ihn zukommt. Ich setzte mich zu ihm und hatte die Tür, die in die Tiefe führt, vor Augen. Es gibt schönere Plätze im Café Leonar. Aber hier hängen die neuesten Zeitungen.
»Du hast meinen Anruf gehört?«, fragte er mich. »Wäre ich sonst hier?« »Also?« Er legte die Zeitung beiseite. Ich zuckte ratlos mit den Schultern. Was würde ich an Rosch Haschana machen? Juden wie Oleg und ich, schon etwas älter, nicht fromm, nicht einmal ein bisschen, keine Kinder, wo sollen wir hin? In die Synagoge. Aber danach?
gästeliste Die Kellnerin kam. Ich bestellte Milchkaffee und dazu ein Stück jüdische Apfeltorte, Spezialität des Hauses Leonar, Hamburgs bekanntestem und einzigem jüdischen Lokal. Es gehört Juden. Die Gäste sind überwiegend nichtjüdisch, am Türpfosten hängt die Mesusa, das Essen ist koscher-liberal, und die Weine sind immer gut. Schräg gegenüber sind die Jüdische Gemeinde und die Jüdische Schule und das Jüdische Altenheim, alle drei Einrichtungen zusammen in der ehemaligen Talmud-Tora-Schule, kurz TTS genannt. Doch. Das geht.
»Du kannst zu mir kommen«, sagte Oleg. Seine Küche ist größer als meine, und er kocht besser als ich. »Ulrike ist natürlich auch da.«
Oleg und Ulrike sind ein Paar, aber sie wohnen nicht zusammen, weil Oleg keinen zweiten Eisschrank für Milchiges hat. Eine junge Liebe zwischen 60-Jährigen. Alle wissen es. Außer Olegs Mutter. Sie ist erst vor ein paar Monaten aus Moskau gekommen und wohnt drüben, in der Ehemaligen, womit hierorts nicht die frühere DDR gemeint ist, sondern die ehemalige TTS.
Ulrike bestehe auf einer Vorbereitungsgruppe, sagte Oleg. »Sie findet, wir wissen zu wenig.« Ich nickte. Und es stimmt ja auch. Nur trifft es mich eben anders, wenn mir das eine zum Judentum übergetretene Deutsche nachweist. Es schmerzt mich nicht. Es wurmt mich. Und das soll mich in diesen Tagen bis Jom Kippur in meinen Keller hinunterführen, darüber will ich in mich gehen.
islam Übergetreten zum Judentum sind Menschen zu allen Zeiten und nicht nur in Deutschland, aber in Deutschland zwischen 1933 und 1945 wahrscheinlich am wenigsten. Danach auf einmal wieder doch und sogar mehr als sonst, und heute wieder weniger, dafür mehr zum Islam.
Juden sind Juden, und wir sollen uns freuen, wenn unsere Zahl wieder zunimmt. Aber Juden sind eben nicht nur Juden. Oleg zum Beispiel ist Jude und Russe, auch wenn er schon seit 20 Jahren in Hamburg lebt. Und ich bin Jüdin und Deutsche. Der Unterschied zwischen uns ist einfach: Oleg hat den Krieg gegen Hitler gewonnen.
Meine jüdische Identität ist eine kulturelle. Ich lese jüdische Autoren mit einer Art nationalem Wohlbehagen. Natürlich nur, wenn sie gut sind. Ich bin Jüdin in familiärer Analogie. Meine Mutter war Jüdin. Mir genügt das. Ich vertraue darauf, dass es solche Juden wie mich auch geben muss. »Dann glaubst du ja doch«, stellte Oleg fest. »In diesem Punkt unbedingt«, stimmte ich ihm zu.
»Anat kommt auch«, sagte er. »Sie fliegt nicht nach Israel. Ihr alter Vater hat darauf bestanden, dass sie daffke über die Feiertage diesmal in Deutschland bleibt. Hier sei sie sicher. Und natürlich kommt meine Mutter.«
prüfungsangst Das war vergangene Woche. Zu Hause wälzte ich Bücher, denn mich erfaßte Angst, wie vor einer Prüfung. Das Urteil über jeden von uns wird an Rosch Haschana eingetragen ins Buch des Lebens, das offen bleibt bis Jom Kippur. Dann wird es besiegelt. Ob man in der Welt bleiben darf. Ob man sie verlassen muss. Kostbare zehn Tage der inneren Einkehr und, wenn möglich, Umkehr. Die kürzeste Psychoanalyse, die man machen kann.
Meine Prüfungsangst aber galt Ulrike. Im Vergleich zu mir weiß sie alles. Sie liest Hebräisch, sie kennt die Gebete, sie beherrscht die Rituale, sie lernt regelmäßig Tora und Talmud bei einem amerikanischen Rabbi im Internet. Und ich? Ich lerne hastig und in Eile jedes Mal kurz vorher. Die übrige Zeit des Jahres sehe ich den Deutschen zu, wie sie ihre und unsere Vergangenheit bewältigen.
Die Vorbereitungsgruppe hat inzwischen stattgefunden, und ich will versuchen, darüber zu berichten. Als Oleg fragte, wann eigentlich dieses Mal Rosch Haschana sei – wir fünf saßen am runden Küchentisch, Anat hatte Falafel und Humus vom Syrer an der Ecke mitgebracht, Ulrike verteilte Teller und Bestecke – antwortete ich, bestens präpariert, Vorabend sei diesmal der 24. September. Der Korken vom Rotwein ließ sich gut herausziehen, ich schenkte ein. Olegs 93-jährige Mutter, gehalten von mehreren Sofakissen, sah uns schweigend zu.
Ulrike widersprach. Rosch Haschana sei wie in allen Jahren zuvor seit der Weltgründung und so auch im neuen Jahr 5775 immer am 1. Tischri und in der Diaspora dazu am 2. Tischri, um Juden fern von Jerusalem sicher sein zu lassen, dass sie den genauen Zeitpunkt des Hohen Feiertages nicht verpassten, da der jüdische Kalender ein Mondkalender sei und der erste Tag eines jeden Monats auf Neumond falle, was am Beginn eines Mondzyklus einer von zwei Tagen sein könne. Sie verteilte Papier und Bleistifte, und Anat fragte: »Was werden wir essen?«
schreibweisen Ulrike notierte »gefiltn fish«, klein geschrieben und amerikanisch ohne c, wie ihr Rabbi Fishman. Anat schrieb den Fisch in hebräischen Buchstaben auf Ivrit, ich nach deutscher Aussprache, und Oleg ließ sich von seiner Mutter auf Russisch ihren gefilten Fisch erklären, als hätte er ihn noch nie bei seiner Ulrike genossen. Es ging eine ganze Weile ums Essen, da wir Gaza und Israel vermeiden wollten. Granatapfel sollte ich besorgen als die Frucht, die keiner von uns vorher genossen haben würde. Anat bot an, Honigkuchen zu backen, und als sei ihr die Süße auf einmal zuwider, sagte sie, Israel habe sich versündigt an den toten Kindern von Gaza. Es müsse endlich Verträge schließen mit den nationalen arabischen Regierungen.
»Mir scheint«, warf Oleg ein, »die sind an Vereinbarungen mit uns Juden überhaupt nicht interessiert.« Sie sei Israelin, beharrte Anat. Sie lebe nicht in der Diaspora, sie trage als Israelin Verantwortung. Jude, jüdisch, das sei für sie die Religion, mehr nicht. »Und wen haben die Nazis dann bitte aus Deutschland deportiert und ermordet«, entgegnete ich, »etwa Deutsche?«.
Ulrike fragte, ob wir uns darauf einlassen könnten, zu Jom Kippur zu fasten, »wirklich fasten, ohne zu trinken, 24 Stunden lang«. Anat und Oleg und ich. Wir sahen uns an. Ulrike passte auf, ob wir Juden auch alles richtig machten.
Wer würde die Brachot sprechen, die besonderen Segen zu Rosch Haschana? Oleg und ich waren dieser Anforderung nicht ganz gewachsen. Anat oder Ulrike, eine von beiden würde es können, entweder die Israelin mit französisch-christlicher Mutter und jüdisch-israelischem Vater oder die Erbin deutscher Nazivergangenheit.
Für Anat waren die Hohen Feiertage landesübliche, israelische Festtage, staatlicherseits anerkannt und offiziell respektiert. Gutes Essen, freie Tage, und natürlich ging man in die Synagoge, wenn man es auch sonst nicht tat. Oleg hatte erst in Deutschland jüdische Tradition gelernt.
familiengeschichten Und für Ulrike? Was bedeutete es für sie? Ich wusste es nicht. Warum ausgerechnet das Judentum? Sie hatte nie etwas dazu gesagt und war doch wie ich und Oleg und Anat eingehäkelt ins Gewebe bestehender und gewesener Lebensgeschichten, Familiengeschichten. Ich sah zu ihr hinüber und dachte: Ihr wisst von uns Juden alles. Und wir wissen von euch nichts.
Da ließ sich Olegs Mutter vernehmen. Sie sprach unverkennbar Unheilvolles. Und wir verstanden kein Wort. Jamim noraim. In ihrer rostig krächzenden Stimme kündigten sich die kommenden schrecklichen Tage an, denn das Heilige ist auch das Schreckliche, das Furchterregende. »Meine Mutter meint«, übersetzte Oleg, »ihr seid keine richtigen Juden«. Die Alte nickte dazu, schnalzte mit der Zunge und tätschelte ihrem Sohn die Hand.
Ich hielt mich innerlich an meiner jüdischen Mutter fest. Juden wie mich würde es bald nicht mehr geben, Nachgeborene von deutschen Juden. Wir hocken auf der Schoa, vergiften uns wieder und wieder daran und umgehen die jüdischen Gebote, wie ein heiliges, schwer beschädigtes Tabu. Unterdessen kommt aus Israel und aus Osteuropa jüdisches Leben nach Deutschland. Und es überrollt uns eine neue antisemitische Welle.
sofakissen Oleg war vom Tisch aufgestanden. Seine Mutter ließ er in den Sofakissen zurück. Er stellte sich hinter Ulrikes Stuhl und hatte seine Hände auf ihre Schultern gelegt. Da fragte die alte Frau in durchaus verständlichem Jiddisch, wie Ulrikes Familie die Nazizeit überlebt habe. Ulrike wurde weiß im Gesicht. Und ich, die ich doch nichts anderes im Sinn gehabt hatte, wenn ich auf ihr Judentum sah, fühlte auf einmal Mitleid mit ihr.
»Tja, ganz gut eigentlich«, sagte sie leise. »Beide Großeltern mochten die Juden nicht. Mein Vater war Mitglied der NSDAP in Stuttgart, meine Mutter übrigens auch. Sie hat ihn dazu überredet. Willscht was werde, dann gehscht zum Hitler.«
Am Vorabend zu Rosch Haschana erinnerte meine Großmutter uns am Tisch stets an diese Überlegung: Die Kabbalisten lehren, dass Sein Wunsch, diese Welt für ein weiteres Jahr zu erhalten und damit auch das Universum weiter existieren zu lassen, sich darin erneuere, was dazu in ihm den Wunsch erwecke. Ein verdichteter Gedankengang, wie ein geschlossener Kreis, den wir ausschreiten ein Leben lang.