Vor einigen Jahren hat die amerikanische Kabarettistin Sarah Silverman ein herrlich unweihnachtliches Weihnachtslied samt Videoclip veröffentlicht: In ihrem Wohnzimmer – natürlich stilecht mit Christbaum eingerichtet – fängt sie den Weihnachtsmann ab und liest ihm die Leviten.
»Was hat Jesus mit dir zu tun?«, fragt sie ihn, macht einige Anspielungen unterhalb der Gürtellinie und erklärt ihm, dass sie zwar nicht glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes sei, aber durchaus ein anständiger Kerl. Und hätte dieser Jesus nicht auch gesagt: »Gib dem Juden-Mädchen ein Spielzeug!?« Dann schmeißt sie einige Tannenbäume um, fragt den Weihnachtsmann, der sich offensichtlich bedrängt fühlt, ob er etwa ein Deutscher sei, ein »SSanta-Klaus«. Daraufhin knebelt und fesselt sie ihn und erklärt ihm erneut, dass Jesus sagen würde: »Give The Jew Girl Toys!«
Gegenpol Der Song ist nicht nur deshalb witzig, weil er hemmungslos die Rolle religiöser Minderheiten in christlichen Ländern thematisiert, nicht nur, weil er mit der Naivität eines Mädchens vorgetragen wird, das es einfach unfair findet, dass ihre Klassenkameraden an Weihnachten reich beschenkt werden – und sie nicht. Er ist auch deshalb amüsant, weil Sarah Silverman mit ihrem Song einen radikalen Gegenpol zu jenen brav-besinnlichen Weihnachtsliedern aufbaut, die alljährlich in christlichen Haushalten gesungen werden – und aus der Feder von Juden stammen.
Ja, was wäre Weihnachten in den USA und in Deutschland ohne »Let it Snow« von Sammy Cahn, ohne »White Christmas« von Irving Berlin, ohne »Rudolph The Red Nosed Reindeer« von Johnny Marks, ohne »The Little Drummer Boy« von Katherine K. Davis und ohne »Feliz Navidad« von José Feliciano?
Sicher, man kann aus alldem eine Wissenschaft machen, man kann sich die einzelnen Stücke vornehmen und fragen: Warum, verdammt, schreiben Juden Musik für eines der wichtigsten christlichen Feste, mit dem sie nichts zu tun haben? Und wenn sie das schon tun, jubeln sie den Christen dann wenigstens original-jüdische Themen unter?
Erklärungen Findige Analytiker kommen dann schnell zu allerhand Erklärungen, etwa in der Exegese des »Rudolph«-Songs: die rote »Juden-Nase«, über die alle lachen, das verspottete Tier, das schließlich wegen seiner Einmaligkeit geschätzt und geliebt wird. Und, ja, man kann Irving Berlins »White Christmas« ganz nach Philip Roth als endgültige Profanisierung des christlichen Festes verstehen, als Auflösung der Geburtstagsfeier von Jesus und den Beginn des antichristlichen Weihnachtskitsches.
Aber man kann all das auch für überbewertet halten. Auf die Frage, warum jüdische Musiker Weihnachtsmusik machen, könnte es auch viel näherliegende Antworten geben: weil ein Komponist aus München vielleicht auch eine Stadionhymne für den HSV schreiben würde; weil der Nichtjude David Orlowsky den Klezmer liebt und einer der besten Klezmer-Musiker ist; weil ein muslimischer Denker wie Navid Kermani vielleicht die Bibelgeschichte so ergreifend findet, dass er sie interpretieren will; oder weil – ganz nach Sarah Silverman – ein jüdisches Kind am 24. Dezember auch Geschenke haben möchte. Man könnte aber auch noch eine ganz andere Antwort geben: Jüdische Musiker machen Weihnachtsmusik, ganz einfach weil sie es können!
Die kanadische Jazzsängerin Sophie Milman ist Jüdin, stammt aus Russland und beweist, dass Silvermans Satire durchaus einen ernsten Hintergrund hat. »Ich bin 100 Prozent koscher aufgewachsen«, sagt sie, »aber wir haben schon in Russland immer Weihnachten gefeiert. Ich finde, es ist ein wunderschönes Fest«.
Integration Milmans Erklärung für den Erfolg von Weihnachtsliedern jüdischer Komponisten ist simpel: »Viele amerikanische Juden wollten einfach ein Teil des amerikanischen Lebens und Traumes sein, sie wollten sich in die Gesellschaft integrieren und ihr Anderssein kompensieren.« Das galt natürlich ganz besonders für jene jüdischen Musiker, die in die USA geflüchtet waren. Irving Berlin etwa musste als kleiner Junge mitansehen, wie bei einem Pogrom das Haus seiner Eltern im Russischen Reich niedergebrannt wurde.
Auch heute noch ist es amüsant zu sehen, mit welchem Witz Ilja Richter bereits 1974 in seiner Fernsehsendung Disco die Balance gefunden hat, als jüdischer Unterhaltungskünstler deutsche Weihnachtsfeierlichkeiten subtil aufs Korn zu nehmen, ohne dabei sein christliches Publikum zu verprellen. Im Gegenteil, in seiner legendären Show präsentierte er Weihnachten als Fest der Familie, aller Musiker und seines Teams – und damit, ganz im Sinne Silvermans, natürlich auch irgendwie mit der christlichen Weihnachtsbotschaft, die keinen Unterschied zwischen den Menschen macht.
So gesehen, kann man die Tradition jüdischer Weihnachtslieder auch als große Leistung der Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft verstehen. Ja, mehr noch: als geglückten Versuch, interreligiöse Differenzen aufzuheben, ohne sich von den eigenen Wurzeln loszusagen. Songs wie »White Christmas« oder »Winter Wonderland« gehören längst zum Kanon des christlichen Festes, ebenso wie die moderneren Versionen, etwa wenn Barbra Streisand ein Weihnachtsalbum mit »Jingle Bells« aufnimmt, Sammy Davis Jr. »It’s Christmas Time All Over The World« singt oder Bob Dylan »Must Be Santa«. Vielen Zuhörern, auch den nichtjüdischen, ist klar, dass diese Musik von Juden stammt. Das Schöne ist: Es spielt keine Rolle! Niemand verrät seine eigene Identität.
Nächstenliebe Auch die Jazzsängerin Sophie Milman findet, dass ihr Judentum nicht beeinträchtigt wird, wenn sie Weihnachtslieder singt. Und bekanntlich sind weder Bob Dylan noch Barbra Streisand wegen eines Weihnachtsliedes konvertiert. Letztlich wollen sie alle nur, was Sarah Silverman will: dass der Weihnachtsmann die Botschaft von Jesus nicht vergisst, dass Nächstenliebe kein Exklusivrecht einer Religion ist.
Denn ob Sammy Cahn, Paul Simon und selbst Gene Simmons: Was die Songs zu Weihnachten aus jüdischer Feder vereint, ist nicht die konkrete Botschaft des Neuen Testaments, sondern das Gefühl der Nächstenliebe, das – zumindest formal – in christlich geprägten Ländern den Dezember bestimmt; das eintritt, wenn der Schnee zu fallen beginnt, wenn Weihnachtsmänner in den Einkaufsstraßen stehen und die Familie sich gegenseitig durch Aufmerksamkeit beschenkt – und viele Juden dazu den Soundtrack liefern.