»Wir kommen wieder! Wir töten euch alle!«, ruft der Mob in Wilna. Mit Fackeln in der Hand laufen sie zum Schloss von Doktor Casaglia. Sein Diener Lionel hält sie auf, dann kommt der Schlossherr: »Die Leute bestehen darauf, das Schloss in Brand zu setzen«, sagt Lionel. »Dann muss man ihnen sagen, dass das nicht geht«, meint Casaglia. Und wirft die Flammen, die schon am Schloss hochzüngeln, auf die Meute.
Man liebt in Wilna keine Zauberer, Vampire und Hexen. Man schlägt sie tot, vertreibt sie, hasst sie. Dabei lieben und leiden sie doch wie alle anderen auch. Ferdinand, der Vampir etwa, der gerade ein Zimmer an Magda, eine Künstlerin, vermietet hat. Natürlich ist seine Ex-Freundin Liou, eine Alraune, sofort eifersüchtig. Sie stellt ihn zur Rede, aber er hört nicht richtig zu, sondern küsst sie. Erst macht Liou mit, aber dann wehrt sie sich: »Das ist typisch. Ich will mit dir reden, und du denkst nur an eines: mich anzufassen.« Und geht.
Dann wird der Vampir, während er auf der Suche nach Essen durch die Stadt fliegt, auch noch fotografiert. Von einer »umwerfenden Rothaarigen«, die sich auf einem Dach hinter einem Sims versteckt hat. Mit Blitzlicht, was Ferdinand überhaupt nicht verträgt, er »kriegt davon ophthalmische Migräne«. Also flüchtet er, findet ein offenes Fenster, dahinter eine schlafende Schöne, trinkt ein wenig von ihrem Blut, wieder ein Blitzlicht. Das ist zu viel: Ferdinand wird ohnmächtig.
skurril Der französische Zeichner und Autor Joann Sfar, berühmt geworden durch seine Graphic Novel Die Katze des Rabbiners, legt mit Aspirine, seinem neuesten Band auf Deutsch, skurrile Geschichten über Tote und Untote, Vampire, Hexen und Gespenster vor. Ferdinands Exfreundin Liou etwa mit ihrem grünen Haar, stachelig und abstehend wie eine Haube aus Ästen. Oder die rothaarige Hexe Nope, die sich nach ihren Fotoexperimenten in Ferdinand verliebt. Nicht zuletzt die titelgebenden Schwestern Aspirine und Ritaline, die eine flachbrüstig und oft traurig, die andere auf Männerfang, bis sie sich in Richard verliebt, der immer zum Wolf wird, wenn ihm eine Frau gefällt. Ein Jude ist natürlich auch dabei, ein alter Mann mit Bart, Elija, der sich einen Golem gebaut hat, mit ihm betet und Klezmermusik macht.
All die Charaktere aufzuzählen, würde zu lange dauern, ebenso wie die Geschichte in all ihren Verästelungen. Die groben Linien sind klar: Gespenster sind auch nur Menschen, mit allen Schwächen, mit allen Stärken, mit Fehlern und liebenswerten Seiten. Sie haben mit ihren Gefühlen zu kämpfen, aber auch mit ihrer Umwelt. Manche werden dabei gewalttätig, wie Doktor Casiglia, der Elija seinen Golem stiehlt, sich die Lehmfigur gefügig macht und alle Gespensterjäger umbringen lässt, in einem blutigen Gemetzel.
expressiv Schön sind wie immer bei Sfar die vielen abseitigen, fantasievollen Details, der Wort- und Situationswitz. Da spricht Nope den ohnmächtigen Ferdinand mit »Klaus Kinski« an. Es gibt einen Plattenladen, der nur Musik von Toten verkauft. Die Bände in der Bibliothek reden, ein »kleines rosa Buch« von Ernst Lubitsch gibt Verführungstipps, ein anderes kommentiert: »Was sind das für Macho-Ratschläge?«
Zwischen Ernst und Spaß schwankt Aspirine, das eigentlich aus mehreren Geschichten besteht, die lose miteinander verbunden sind, vor allem durch Ferdinand, der durch sie alle geistert. Mal sind sie grausam, wenn die Jäger einen kleinen Jungen und seinen Hund zu Tode trampeln, mal romantisch, wenn sich die Künstlerin Magda in den guten Kommissar Ehrenstein verliebt, mal philosophisch, mal traurig. Dazu passt wunderbar Sfars Stil. Er zeichnet nicht genau, nicht realistisch, er huscht eher über die Szenen und durch die abwechslungsreichen, expressiven Panels, mal in Nahaufnahme, mal als Überblick gestaltet, mit einer ausdrucksstarken, dichten, oft düsteren Atmosphäre. Im Hintergrund, wimmelt es fast immer, wirken die Figuren beweglich und bewegt, scheinen zu schwanken und zu fliegen – was ja im Fall von Hexen und Vampiren auch passt.
Joann Sfar: »Aspirine«. Übersetzt von Johann Ulrich. Avant, Berlin 2014, 224 S., 29,95 €