Tel Aviv nach dem nächsten Krieg: Tausende von Israelis sind verheerenden Luftangriffen zum Opfer gefallen. Ruinen von Häusern, Schutthaufen und Bombenkrater prägen das Stadtbild. Ein israelisches Bohème-Paar Anfang 30, der Pianist Joav Kirsch und seine Frau, die TV-Cutterin Chagit, hat auf dem Land überlebt und kehrt zurück in die geschlagene Metropole – mit dem Wunsch, den Krieg hinter sich zu lassen und wieder ein normales Leben zu führen. Doch dieser Wunsch bleibt vergeblich.
Denn nicht nur die Stadt ist zerstört. Auch die israelische Demokratie kollabiert. Nach einer verheerenden Explosion während einer Sitzung des Sicherheitskabinetts und dem Tod der gesamten militärischen Führung hat Generalmajor Menachem »Meni« Schamai die Macht im jüdischen Staat übernommen – wie es heißt, vorerst bis zum Ende des Krieges. Mithilfe von Notstandsgesetzen und eines »Übergangsoberkommandos« regiert Schamai mit harter Hand.
Künstler und Schriftsteller, die von der neuen Führung »linker Umtriebe« verdächtigt werden, landen auf dem Polizeirevier – einbestellt zum Verhör von einer eigens gegründeten Spezialeinheit »zur Verhinderung umstürzlerischer Umtriebe«.
Verhör Deren Beamte stellen Fragen, die sich wie eine verschärfte Politversion von Sicherheitschecks auf dem Flughafen anhören: »Würden Sie sich selbst als Zionisten definieren? Haben Sie Kontakt zu Nichtjuden? Haben Sie im letzten Jahr an irgendeiner Protestaktion teilgenommen? Und in den letzten fünf Jahren?«
In die Mühlen der Sondereinheit gerät auch der unpolitische, opportunistische Pianist Joav. Seiner Frau Chagit wird unterdessen im Schneideraum von ihrem Kollegen Daniel Ben-Dor (die Figur erinnert stark an Alon Ben-David, Militärkorrespondent von Channel 10) ein USB-Stick mit einem Video zugesteckt, auf dem eine junge Frau den Sohn von Meni Schamai beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Ein Skandal auf höchster Regierungsebene, der mit dem angeblichen Selbstmord des Opfers endet – und das gebeutelte Israel nur noch tiefer in die Diktatur führt.
Alles sehr unerfreulich. Doch für den Leser trotzdem ein Glück: Yali Sobol, geboren 1972 in Haifa, Gründer der israelischen Kultrockband »Monica Sex« und Sohn des bekannten Theaterautors Jehoschua Sobol, beschreibt in seinem dritten Roman Die Hände des Pianisten – dem ersten seiner Bücher, das ins Deutsche übersetzt wurde – den Albtraum aller israelischen Demokraten mit leichter Hand, in einem fast krimiartigen Handlungsstrang und leuchtet menschliche Abgründe mit typisch israelischem, tiefschwarzem Humor aus.
midlife-krise Die Hände des Pianisten ist keine Schwarz-Weiß-Malerei eines politisch engagierten Autors, sondern eine Geschichte, für die Schamais Notstandsregierung nur den Rahmen vorgibt: Es geht im Kern um die Midlife-Krise eines mäßig erfolgreichen Pianisten, der dem politischen Druck nicht standhält, weil er ohne Publikum nicht leben kann.
Es geht auch um die Liebe eines israelischen Traumpaares, das einst jeden Abend das Ritual versöhnlicher Gespräche pflegte, dessen Beziehung nun aber aufgrund von Joavs Arbeitslosigkeit bedroht ist: »Die ›Lage‹, der Adler, der in ihrer Wohnung gelandet war, hatte sich dort bereits ein stattliches Nest gebaut. Jedes Mal fand sich eine andere Bagatelle, irgendeine Belanglosigkeit, die sie dazu brachte, mit gefletschten Zähnen und verzerrten Gesichtern voreinanderzustehen und ihre Kränkung und die aufgestaute Wut, die nach einem Ventil suchten, herauszubrüllen.«
Die Frage, wie standfest Menschen, die sich immer für prinzipientreu hielten, in einer Diktatur tatsächlich bleiben, stellt sich auf der ganzen Welt. Doch Sobols Roman spielt in Tel Aviv – und der israelische Autor fragt: Was bleibt vom politischen Engagement der dortigen Kreativ szene eigentlich übrig, wenn Demonstrationen gegen die Besatzung nicht länger »in« sind, sondern dazu führen, dass die ehemaligen Protestierer das Land nicht mehr verlassen dürfen?
»Schieler« Denn die »patriotischen« Auswüchse in Sobols dystopischem Israel nehmen überhand: Bürger, die sich vor Schamais Willkürherrschaft ins Ausland absetzen wollen, werden von einem »namhaften Publizisten« des neuen Regimes als »Schieler« diffamiert: »Menschen, die alles unternehmen würden, um uns ausgerechnet in dieser unserer schwersten Stunde im Stich zu lassen, schielen unentwegt nach außen.«
Und während die internationale Ächtung Israels ungeahnte Höhepunkte erreicht und Chagit Kirsch im Schneideraum auf Fernsehbildern das Gesicht eines israelischen Generals pixeln muss, damit der nicht vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag landet, bemüht sich Joav vergeblich um ein Ausreisevisum, um seine geliebten Konzertreisen in die Toskana wieder aufzunehmen. Kein Wunder, dass sich der Pianist beim Verhör auf dem Revier als wenig charakterstark erweist und ohne Not eine Bekannte ans Messer liefert, die ihn aufgefordert habe, »an Veranstaltungen mit dezidiert linksorientiertem Charakter teilzunehmen«.
Nicht zuletzt ist Die Hände des Pianisten (eine Hand Joavs wird beim Verhör gebrochen) ein Buch über die Schwäche geltungssüchtiger Männer. Doch auch die Frauen halten nicht stand bis zum Schluss. Selbst der in sich ruhenden Chagit, die zunächst so cool bleibt, setzen »maßvoller physischer Druck« und Schlafentzug durch die Sondereinheit der Polizei stärker zu, als sie aushalten kann.
Alles, wie gesagt, sehr unerfreulich. Doch Yali Sobol, dessen Liebe zu Tel Aviv auf jeder Seite des Buches sichtbar wird, entwickelt in seiner israelischen Dystopie einen solchen Spannungsbogen, dass man den Roman nicht aus der Hand legen mag, bevor die letzte Seite gelesen ist.
Yali Sobol: »Die Hände des Pianisten« Roman. Übersetzt von Markus Lemke. Antje Kunstmann, München 2014, 286 S., 19,95 €
Der Autor liest bei den Deutsch-Israelischen Literaturtagen, die vom 5. bis 13. April in Berlin stattfinden.
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