Sie begegneten sich bei den Dreharbeiten zu dem Film Das Urteil von Nürnberg (1961). Der junge Maximilian Schell war begeistert von dem damals 60-jährigen Norbert Schiller. Der aus Wien stammende jüdische Schauspieler, der seit 1938 im amerikanischen Exil lebte, trat in einer unauffälligen Nebenrolle als Kellner auf. Er hatte nur wenige Sätze zu sagen. »Doch die Art, wie er das vortrug, elektrisierte mich. Mit welcher Sicherheit! Mit welcher großartigen Selbstverständlichkeit!«, schreibt Schell in seinen Erinnerungen.
Aus der Begegnung wurde eine innige Freundschaft. Wann immer »Max« in Hollywood drehte, habe er die Familie besucht, erzählt Schillers Sohn, Norbert jr. Manchmal brachte der Filmstar seine Schwester, die nicht weniger berühmte Maria Schell, mit. Und es war Schell, der für ein Comeback seines Freundes in Europa sorgte.
kriegsende Denn obwohl der exilierte Schauspieler Schiller bereits kurz nach Kriegsende in Österreich und Deutschland Vorträge über amerikanische Literatur hielt und Gedichte von Walt Whitman vortrug, waren seine Bemühungen, zurück zur deutschsprachigen Bühne zu finden, fehgeschlagen – anders als bei jüdischen Bühnenstars der Vorkriegszeit wie Ernst Deutsch und Fritz Kortner oder weniger bekannten Schauspielern wie Joseph Schaper.
Einst hatte alles auf eine steile Karriere hingedeutet. Mit 20 debütierte Schiller am Burgtheater. Er glänzte in Rollen jugendlicher Helden: Sein kraftvoller Körper, der strahlende Ausdruck seiner Augen, besonders die metallische, aber nicht harte Stimme – an all dies erinnerte sich noch Jahre später der Dramaturg Rudolph Joseph, auch er Jude und Emigrant.
Joseph hatte Schiller mehrfach im Frankfurter Schauspielhaus erlebt, wo er sechs Jahre lang zum festen Ensemble zählte. Und er war es auch, der Schiller nach Berlin, zum Renaissance-Theater, »entführte«. Begeistert zeigte sich Hitler, als er Schiller in der Rolle des Romeo gesehen hatte, erzählt Norbert jr. »Als mein Vater erfuhr, dass Hitler beabsichtigte, hinter die Kulissen zu kommen, floh er durch die Hintertür.«
Charme Schiller – kann es einen klangvolleren Namen für einen Schauspieler geben? Ist er gar ein Nachfahre des berühmten Schriftstellers gewesen, wie die »Los Angeles Times« behauptete (Mai 1939)? Keineswegs. Als Norbert Veilchenblüth geboren, wuchs er in einem jüdischen Haus auf. Der Vater starb vor dem Krieg; eine Schwester wurde ermordet, vermutlich in Auschwitz.
Am Tag des »Anschlusses« starb Schillers Mutter, die er, inzwischen Emigrant in der Schweiz, noch rechtzeitig hatte besuchen können. Unmittelbar danach floh er in die USA. Dabei half ihm, wie so oft im Leben, sein Schauspieltalent: Geschickt versteckte er Dokumente und Geldnoten und führte die Grenzbeamten in die Irre. Jahre später fragte ihn seine amerikanische Frau, Mary, was eine Synagoge sei. Er antwortete, er sei nie in einer gewesen.
Mary war Schillers zweite Ehefrau. Doch scheint sein Charme auch bei zahlreichen anderen Frauen gewirkt zu haben. Unter ihnen auch Helene Mayer, die berühmte Fechtweltmeisterin, sechsfache deutsche Einzelmeisterin – und »Halbjüdin«, die 1936 aus den USA für die Olympischen Spiele nach Berlin reiste.
liebe Entzückt war die sportliche Blondine von dem zehn Jahre älteren Schauspieler, den sie liebte. Genau 90 Jahre ist das Bild alt, das Norbert Helenes Mutter Rachel, »Frau R. Mayer in herzlicher Ergebenheit«, widmete, ein bislang unbekanntes Bild aus Familienbesitz. Auf zahlreichen anderen Fotos sind die jungen Liebenden halb oder gar nackt am Strand zu sehen. Und doch: Die vorgesehene Eheschließung wurde der Karriere geopfert. Kontakte zu diversen Geliebten sowie zu einstigen Weggefährten pflegte Schiller bis zu seinem Tod. Seine Ehefrau Mary, die gerne allein nach Europa reiste, hatte keine Vorbehalte, die einstigen Freundinnen ihres Mannes zu treffen.
Er war 82 und sie 41, als sich Schiller, der verheiratete Vater von drei erwachsenen Kindern, und die amerikanische Künstlerin Judith Sutcliffe in Kalifornien bei einer Lesung begegneten. Hingerissen von seiner Stimme, nahm sie ihn in ihrem Auto mit. »Ich fuhr in die falsche Richtung der Einbahnstraße«, schreibt sie in ihrem Buch A Collection of Old Men. Auf der Titelseite: der in die Jahre gekommene und dennoch imposante Norbert Schiller: eine volle, weiße Mähne, Schnauzbart, träumerische Augen. Immer wieder legte Schiller ihr seine literarischen Texte vor. War sie nicht daheim, sprach er deutsche Gedichte auf den Anrufbeantworter. Bis heute hat sie alle Kassetten aufbewahrt.
Nun liegen diese Aufnahmen zusammen mit seinen umfangreichen Schriften in einem Archiv in Los Angeles. An der Ostküste der USA, ebenfalls im Archiv, fand sich jüngst eine Tonbandaufnahme mit einem Gespräch über den Schauspieler: Zwei Frauen erzählen über den Mann, den sie liebten, Mary und Judith – ohne jegliches Anzeichen von Eifersucht.
hollywood Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen weigerte sich Schiller, an Hollywood-Filmen über Nazis mitzuwirken. Er zog sich in den kleinen Ort Ojai zurück, lebte asketisch in einem einfachen, selbst gebauten Steinhaus, das ihn an Europa erinnerte, umgeben von deutschen Büchern. In einem seiner kurzen Gedichte schreibt er in einer typischen Mixtur aus Englisch und Deutsch: »My room is my castle / my boots are my car / I walk slowly – don’t hustle / and feel wunderbar.« »Mein Vater hasste jegliche Technologie. Er verweigerte bewusst den amerikanischen Lebensstil«, erzählte sein Sohn, der in USA lebt, und fügt hinzu: »Wann immer es zwischen meinen Eltern einen Streit gab, drohte Vater, das Haus zu verlassen und nach Europa zurückzukehren.«
Erst nach dem Krieg gelang dem begnadeten Schauspieler der Durchbruch: Ab 1947 spielte er in fast 50 Kino- und Fernsehfilmen mit. Seine Liebe aber galt dem Theater und der deutschen Sprache. Noch im hohen Alter trug er deutsche Texte vor, trat bei einer Lesung vor amerikanischen Studenten als Faust auf. Vor diesem Hintergrund kam Maximilian Schells Einladung, in Europa zu drehen, einem Geschenk gleich: Endlich konnte er wieder auf Deutsch spielen, das er mit einem unauslöschlichen Wienerischen Akzent sprach.
In einem der drei Filme (Der Fußgänger) spielte Schiller – laut Besetzungsliste – »sich selbst«. Er sei höchst aufgeregt gewesen, erinnert sich Judith. »Er erzählte mir, dass er ein Brett und einen Kleiderbügel mitgenommen hatte, damit er, der schon etwas gebeugt war, gerade stehen könne.«
Die Autorin lehrt Hebräische und Jüdische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Demnächst erscheint von ihr das Buch »Jüdische Rückkehrer in deutschen Theatern nach 1945«.