Nicht allen Musikern scheint klar, dass das Weihnachtsfest 2020 für viele Menschen ein wenig anders verlaufen wird als üblich. Sie tun auch dieses Mal, was sie immer im Dezember getan haben, und feiern »Christmas as Business«.
Musik wird mit Goldglöckchen-Hochglanz angepinselt, mit vokalem Romantikfilter überzogen und als handelsübliche Kitsch-Peinlichkeit in die realen und digitalen Musikläden gestellt. Wie das geht, ist beim neuen Weihnachtsalbum von Klassik-Star Jonas Kaufmann zu sehen. Der Tenor hat seinen Fans nicht nur ein mittelmäßiges, knallrotes Doppelalbum auf den Gabentisch geknallt, sondern auch noch sein ganz privates Fotoalbum dazu.
Pianist Wie wohltuend anders kommt derweil der Pianist, Musik-Entertainer und Grenzüberschreiter Chilly Gonzales auf dem vorweihnachtlichen Plattenmarkt daher! Auch wenn das Anderssein bei ihm längst zur Regel geworden ist.
A Very Chilly Christmas heißt sein neues Album, und es tritt an, um bereits mit dem ersten Track zu irritieren. Chilly Gonzales stellt den deutschesten aller Weihnachtsklassiker kurzerhand auf den Kopf. »Stille Nacht« verwandelt er 2020 mal eben in ein melancholisch-sehnsüchtiges Moll-Wunderland und pustet jegliche Puderzucker-Kalorie lustvoll aus dem Weg. Gleich in den ersten Takten ein Ausrufezeichen im Pianissimo, dass dieses Weihnachten alles andere als selbstverständlich ist und dass er den Plastikschnee schmelzen lassen will. »Wir müssen Traditionen immer wieder neu befragen«, lautet ein Credo von Chilly Gonzales. Und hier zeigt er, was er damit meint.
Wenn Chilly Gonzales sich mit dem populärsten Fest der Christenheit, seinen Ritualen und seiner Besinnlichkeit auseinandersetzt, macht er das auf zwei diametral verschiedenen Ebenen. Zum einen (wie so oft und gerne) tritt er als Zyniker auf, demonstriert das kapitalistische Geschäftsmodell von Weihnachten, das auch er als Kind in seiner jüdischen Familie in Kanada einführen wollte – natürlich wegen der Geschenke! In diesen Stücken entschlackt er alles, was aus der US-Tradition kommt, von »Jingle Bells« bis »All Ye Faithfull«. Zum anderen gönnt Chilly Gonzales sich aber auch Sentimentalität und einen zutiefst individuellen Zugang zu seiner eigenen, jüdischen Biografie.
Kanada Jason Charles Beck, so der eigentliche Name des Musikers, der 1972 in Montreal geboren wurde, entstammt einer jüdischen Familie, die vor den Deutschen aus Ungarn nach Kanada geflohen ist. Hier gründete Chillys Vater die Aecon-Gruppe, eine millionenschwere Baufirma. Die Religion spielte in der neuen Heimat allerdings nur noch eine Nebenrolle, man wollte nicht auffallen, sich assimilieren. Dazu gehörte auch, dass Weihnachten gefeiert wurde.
Seine Familie feierte Weihnachten – man wollte sich assimilieren.
Es ist selten, dass Gonzales sich zu seinen religiösen Wurzeln äußert; in einem Gespräch mit der »Süddeutschen« machte er vor Kurzem eine kleine Ausnahme. Er erklärte, dass es durchaus eine jüdische Familientradition gebe und dass sein Großvater ihn stets ermahnt habe: »Du bist zwar in Kanada geboren, aber du bist Europäer.«
Schon früh musste Gonzales, trotz (oder wegen) des Reichtums seines Vaters, sein Geld selbst verdienen. Als er 16 Jahre alt war, fing er an, in Hotelbars Klavier zu spielen, oder sogar in einem exquisiten Dessous-Laden, während die Kundinnen in den Garderoben verschwanden. Er liebt es, diese Geschichte zu erzählen!
Deutschland Die Absurdität, dass er ausgerechnet in Deutschland Karriere gemacht hat, in jenem Land, das seine Großeltern vertrieben hat, ist ihm stets bewusst. An anderer Stelle sagte Chilly Gonzales einmal: »Berlin ist zu 100 Prozent die Geburtsstadt der Figur Chilly Gonzales.«
Eine Figur, die so unaufhaltsam wie angreifbar geworden ist. Gonzales hat nicht nur den Rap umarmt, eine eigene Klavierschule gegründet, er stellt sich auch immer wieder – am liebsten in Badelatschen und Bademantel – dem Showdown mit den ganz Großen der Musikgeschichte, etwa seiner großen, klassischen Hassliebe Richard Wagner. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Gonzales sich irgendwann auch Wagner auf einer eigenen Platte vorknöpfen würde, den, wie er sagt, »kriminellen Komponisten, den Erfinder der Filmmusik und diesen fürchterlichen und leider genialen Antisemiten«.
Jetzt stehen aber erst einmal die Weihnachtsklassiker auf dem Programm. Pop-Ohrwürmer wie den Wham-Song »Last Christmas« dampft Gonzales auf sein musikalisch wertvolles Potenzial (ja, das scheint es zu geben!) herunter und importiert eigens für dieses Lied noch ein Spinett. So seziert er bewusst alle vorhandenen Kitsch-Schichten. Ähnlich geht er mit »All I want for Christmas« und anderen ansonsten viel zu plüschigen US-Klassikern um.
Tannenbaum Bei all diesen Songs schmückt Chilly Gonzalez seinen musikalischen Tannenbaum nicht mit schweren, goldenen Kugeln, sondern mit luftigen Strohsternen. Er scheint die einzelnen Stücke besser zu machen, tiefer und besinnlicher. Bei den Traditionals auf dem Album A Very Chilly Christmas hat Gonzales eher mehr Fragezeichen gehabt als Lösungen. Es reicht eben nicht immer, einfach nur die Tonart von Dur nach Moll zu wechseln, um zu verblüffen. »Stille Nacht« und »O Tannenbaum« hätte ein wenig mehr Vertrauen in das Bewährte vielleicht ganz gutgetan.
Aber sei’s drum! Dieses Weihnachtsalbum ist auch deshalb gelungen, weil Chilly Gonzales die perfekten Partner an seiner Seite hat. Natürlich ist seine langjährige Mitstreiterin Leslie Feist (alias Bitch Lap Lap) mit von der Partie. Mit ihr hat Gonzales die wunderschöne Eigenkomposition »The Banister Bough« eingespielt. Musik wie aus einem alten Hollywoodstudio: romantisch und gerade mit der richtigen Prise Sentiment. Dem Song »Snow Is Falling In Manhattan« verleiht Jarvis Cocker, Ex-Frontmann der Band Pulp, seine unverwechselbare Stimme.
A Very Chilly Christmas ist ein »anderes« Weihnachtsalbum – und deshalb wohl besonders passend für das etwas andere Weihnachtsfest 2020.
Chilly Gonzales: » A Very Chilly Christmas«. Gentle Threat/Fontana North 2020