Die Geschichte seines Lebens ist zweifellos der Stoff, aus dem Tragödien gemacht werden.» Mit dieser Feststellung beginnt die israelische Zeithistorikerin Shulamit Volkov ihren biografischen Essay über Walther Rathenau. Rathenau war eine auf vielen Gebieten bewanderte Persönlichkeit – Wirtschaftsmagnat, Politiker, Schriftsteller. Überliefert ist ein Bonmot von Albert Einstein, der einmal sagte, wenn man Rathenau das Amt des Papstes angeboten hätte, er hätte auch dies perfekt ausgeübt – im technischen Sinne. Doch es gab da ein Handicap: Rathenau war jüdisch.
selbsthass Diese Seite Rathenaus ist in vielen Biografen vernachlässigt worden. Anders Shulamit Volkov, die ihren fokussierten Blick auf seine Jüdischkeit in all ihren Widersprüchen legt. Dazu gehört auch der berühmt-berüchtigte Aufsatz Höre, Israel! (1897), in dem der damals 30-Jährige über die zugewanderten assimilationsunwilligen Juden aus dem Osten herzog. Zugleich wandte er sich gegen die Protzerei der neureichen «Tiergartenjuden».
Im ersten Entwurf dieser Polemik, den Volkov jetzt im Rathenau-Archiv entdeckte, hatte der Verfasser auch die verstörende rhetorische Frage aufgeworfen, auf die er bei der Veröffentlichung dann doch verzichtete: «Bedarf es einer Erklärung, wenn ich zum Antisemitismus neige?» Tatsächlich übernahm Rathenau die gängigen antijüdischen Stereotypen und die auf die «Ostjuden» zielenden Klischees seiner Zeit und benutzte Kategorien der Rassenlehre.
«Ich bin ein Deutscher jüdischen Stammes», lautete Rathenaus Credo: «Mein Volk ist das deutsche Volk, meine Heimat ist das deutsche Land, mein Glaube ist der deutsche Glaube, der über den Bekenntnissen steht.» Bemühungen der Zionisten, ihn für ihre Sache zu gewinnen, blieben entsprechend erfolglos. Er sei, ließ Rathenau Theodor Herzl wissen, «weit entfernt von Eretz Israel». Und im November 1918 antwortete er auf zionistische Avancen: «Wir wollen, wie unsere Väter, in Deutschland und für Deutschland leben und sterben. Mögen andere ein Reich in Palästina begründen: Uns zieht nichts nach Asien.»
ungetauft Rathenau litt unter seinem Judentum, wollte es hinter sich lassen, doch wenn es ihm opportun schien, konnte er mit seiner Herkunft auch kokettieren. Er war kein praktizierender Jude, hielt auch nicht die Hohen Feiertage. In den Weimarer Jahren ließ er sich angeblich an Jom Kippur in seinem Wagen zur Synagoge chauffieren, um das Kaddisch für seinen Vater, den AEG-Gründer Emil Rathenau, zu sprechen. Das dürfte, wenn es stimmt, urteilt Volkov, ein letztes Zeichen seines Judentums für den Rest seines Lebens gewesen sein.
Dennoch: Eine Taufe stand für Rathenau grundsätzlich nicht zur Debatte. Sie würde nichts ändern, glaubte er, im Gegenteil, die Folge wäre ein «Antisemitismus gegen Getaufte». Auch wusste er, dass ein Konvertit weder für eine hübsche, reiche Jüdin, noch für eine hübsche, standesgemäße Christin als Heiratskandidat infrage kam.
attentat Mit Rathenaus politischem Aufstieg zum ersten ungetauften Juden, der es –1922 – zum Reichsaußenminister brachte, wurde der Ton der antisemitischen Angriffe gegen ihn zunehmend schriller. «Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverfluchte Judensau!», skandierte der völkische Mob – und das war wörtlich gemeint. Am 22. Juni 1922 fiel er im Berliner Grunewald einem Terroranschlag rechtsradikaler Freikorpsmitglieder zum Opfer. Millionen Menschen gingen aus Protest auf die Straße. Die Republik reagierte mit Staatstrauer. Thomas Mann sagte später in einer Rede am 30. November 1926: «Der Mord an Walther Rathenau … war hirnverbrannt. … Wer in Deutschland Spuren von Gescheitheit an den Tag legt, wird sogleich für einen Juden gehalten und ist damit dann also erledigt.»
Walther Rathenau lebte ein vielseitiges, dramatisches, von inneren Konflikten geprägtes Leben eines Deutschen und Juden, eine doppelte Identität, deren Pole nicht miteinander vereinbar waren. Über ihn als Schriftsteller schreibt Shulamit Volkov: «Der Stil war präzise und elegant, anspruchsvoll, aber ausgesprochen gut lesbar.» Das lässt sich auch über diese Biografie sagen.
Shulamit Volkov: «Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867–1922». Übersetzt von Ulla Höber. C. H. Beck München 2012, 250 S., 22,95 €