Israelische Autoren schreiben nicht so gern über Themen außerhalb ihrer eigenen Lebenswelt – leider.» Das fröhliche Blinzeln, das Nir Baram diesen Worten folgen lässt, weckt jedoch Zweifel an seiner Trauer. Überdies: Spielt einer von A.B. Jehoschuas berühmten Romanen nicht in Indien, lässt Etgar Keret seine Kurzgeschichten-Helden nicht auch außerhalb Israels herumstolpern, und hat nicht erst vor zwei Jahren Ron Leshem mit Der geheime Basar einen hochgelobten Roman geschrieben, der ausgerechnet im Iran spielt?
Nir Baram, Jahrgang 1977, Schlabber-T-Shirt und Dreitagebart, räkelt sich auf seiner Wohnzimmercouch in Tel Aviv und legt in der ihm eigenen provokanten Freundlichkeit noch einmal nach. «Gewiss. Aber was der europäische Leser von uns erwartet, ist dennoch diese Art guter Export-Prosa: Holocaust-Geschichten der ersten bis dritten Generation, dazu kritische Romane über die israelische Gegenwart und die Okkupation der Palästinensergebiete – all das dargeboten in einer humanistisch-sozialkritisch-realistischen Weise ...»
Camouflage Sind wir eventuell zu Besuch bei einem Zyniker? Der Eindruck könnte falscher nicht sein, denn wenn ein israelischer Schriftsteller der jüngeren Generation sich in der Nachfolge David Grossmans und Amos Oz’ für sein Land verantwortlich fühlt, dann ist es dieser streitbare Nir Baram, dessen Schmuddel-Outfit vielleicht sogar eine unbewusste Camouflage ist für moralische Ernsthaftigkeit. Mehr noch: Kaum einer in Israel, der die kristalline Adoleszenten-Stimme des Romanciers noch nicht im Radio, im Fernsehen oder bei Demonstrationen gehört hat – und auch jenseits politischer Übereinstimmung Lob ausspricht für die Stringenz seiner öffentlichen Rede. Also doch ein Experte für «israelische Themen»?
Baram nimmt den Ball auf – auf seine Weise. «Die unbescheidenste Antwort auf diese Frage wäre die Feststellung, dass alles, was uns hier beschäftigt, gleichzeitig auch die Welt angeht – was zur Hälfte wahr ist und zur anderen Hälfte Teil unserer Hybris. Mein literarisches Schreiben ist hoffentlich frei davon.»
Politik Debütiert hat Baram Ende der 90er-Jahre mit dem (kurz darauf auch auf Deutsch erschienenen) Roman Purple Love Story, einer Liebesgeschichte, die in den Monaten vor und nach der Ermordung Yitzhak Rabins spielt. Einige Jahre später erschien – unter hymnischem Kollegenlob von Amoz Oz und Meir Shalev – Der Wiederträumer, eine Art hyperrealistische Traumsequenz, an deren Ende Tel Aviv untergeht, heimgesucht von einem gigantischen Hurrikan. «Vor allem wollte ich hier die Verheerung zeigen, die von innen droht», sagt Nir, dessen Vater Uzi Baram Minister im Kabinett Rabin war und ebenso zum Urgestein der Arbeitspartei zählt wie der Großvater, der bereits in den 50er-Jahren in der israelischen Politik aktiv war.
Also noch einmal: Diese selbst- und gesellschaftskritische Inspektion in Romanen – ist sie nicht tatsächlich «typisch israelisch»? Und kann nicht ebenfalls als Landesspezialität gelten, wie Literarisches und Lebensweltliches permanent ineinander gehen, ist doch Nir Baram häufig auf eben jenem Yitzhak Rabin gewidmeten Platz im Tel Aviver Stadtzentrum zu sehen, um zusammen mit seinen jüngeren Autorenkollegen die Gesellschaft aufzurütteln – für die Belange der Darfur-Flüchtlinge oder gegen die Besatzung der Palästinensergebiete?
Dennoch: Auch ein provokativer Roman wie Der Wiederträumer gehorchte einer ganz eigenen Ästhetik und schien eher von Kafka, Borges und Pynchon inspiriert als von den Geboten der Gesinnungsethik. «Wann, verehrter Herr», heißt es da etwa, «an welchem Punkt der menschlichen Geschichte, auf welchem Kontinent, in welchem Staat, welcher Stadt, welcher Straße, gab es auch nur irgendein abgefucktes Etwas, das den Sozialisten, Marxisten und Linken gut genug gewesen wäre?» Ideologisch korrekte Prosa würde sich anders lesen.
antiheld Und nun der Roman Gute Leute, der soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist. Erzählt werden zwei Lebenswege, die sich am Vorabend des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion überkreuzen: Der Berliner Thomas Heiselberg ist ein alerter Nazi-Mitläufer, die Leningraderin Alexandra Weißberg verkehrt unter regimekritischen Dichtern und lässt sich schließlich doch mit Stalins NKWD ein. «Es könnte sein», sagt Nir Baram und tigert Zigarette rauchend vor seiner studentisch anmutenden, von Luftballons gerahmten Bücherwand herum, durchaus ein wenig nervös, «dass gerade die deutschen Leser hier in ihren Erwartungen enttäuscht werden. Ein israelischer Roman über die Hitler- und Stalinzeit, der vor dem Holocaust spielt?
Und dazu ein deutscher Held, der im Grunde das pure Gegenteil des ängstlich-bürokratischen Gehilfen ist, sondern ein überaus individualistischer Typ, der innerhalb der Nazistruktur seine Chance auf Selbstentfaltung nutzt?» Barams Protagonist Heiselberg hatte in den 20er-Jahren für eine amerikanische Marktforschungsfirma gearbeitet und lässt sich nun auf einen Auftrag von Ribbentrops Außenministerium ein, eine Studie zum «polnischen Volkscharakter» zu erstellen. Der Autor spricht gern über seinen Antihelden – der über jene plastische Glaubwürdigkeit verfügt, die immer dann entsteht, wenn aus Thesen wirkliche Figuren werden – und kommt dann zu Interpretationen, die in Deutschland wohl in der Tat falsch verstanden werden könnten.
«Nur so als Beispiel: Ich habe Freunde, die arbeiten für die Netanjahu/Lieberman-Regierung, obwohl sie eigentlich Linksliberale sind. Und glaubst du, sie hätten Bauchschmerzen dabei? Nicht wirklich; gutes Geld verdienend, reden sie sich ein, dadurch ihren emanzipiert-ironischen Lebensstil erst so richtig absichern zu können.»
Soll das heißen, dass der Nationalsozialismus – in klassisch altlinker Interpretation – nur eine besonders perfide Form des kapitalistischen Konkurrenzprinzips gewesen sei? «Aber nein! Das wäre eine Verharmlosung, außerdem geht es mir gerade ums Gegenteil: weg vom letztlich uns alle beruhigend einlullenden Image des Nazis als dumpfe oder hyperintelligente Bestie, wie er in Jonathan Littells Die Wohlgesinnten dargestellt ist, oder vom buckelnden Opportunisten. Beides nämlich erlaubt uns eine allzu schnelle Distanzierung und einen unangebrachten Hochmut, der blind ist für die barbarischen Aspekte, die selbst im eigenen Lebensentwurf schlummern könnten.»
Relativierung Von ähnlich existenzieller Tiefe ist die Figur der tragischen Idealistin Alexandra Weißberg, die gleichzeitig eine in Deutschland noch immer beliebte Frage ziemlich obsolet macht: Wer war schlimmer – Hitler oder Stalin? Interessanterweise wird im Staat der Schoa-Überlebenden keineswegs in diesen ideologischen Relativierungs-Rastern gedacht, das verhindern bereits die komplexen Biografien der in Israel Lebenden.
Wobei Nir Baram seinen Besucher nun erneut überrascht, als er die Bücher zeigt, die er zur Vorbereitung auf Gute Leute gelesen hat: Die Standardwerke der Historiker Ian Kershaw, Christopher Browning und Joachim Fest waren ja noch zu erwarten gewesen, aber eine Kenntnis von Warlam Schalamow und Nadeshda Mandelstam ist in der Tat bei einem Mittdreißiger überraschend, ganz zu schweigen vom letzten Buch, das er nun mit einer kleinen Understatement-Geste aus dem Regal zieht: die ins Hebräische übersetzten Aufsätze des bundesdeutschen Totalitarismus-forschers Karl-Dietrich Bracher.
Der Nachmittag neigt sich inzwischen dem Ende zu, die Tages- und Weltpolitik fordert erneut ihren Gesprächstribut. Gerade nämlich hat Nir Baram zusammen mit Zeruya Shalev und Yoram Kaniuk einen offenen Brief an Generalstaatsanwalt Jehuda Weinstein geschrieben, damit dieser mit juristischen Schritten dafür sorge, dass über einen möglichen Präventivschlag gegen den Iran nicht allein Premierminister Netanjahu und Verteidigungsminister Barak entscheiden, sondern das gesamte Kabinett. Barams Roman Gute Leute aber endet bereits im Juni 1941 mit den beunruhigenden Worten: «Dies hast du gewiss begriffen: Wir alle leben schon seit Langem nicht mehr.» Auf die Leser in Deutschland aber wartet eine beunruhigende, alle bequemen Gewissheiten beiseite fegende Jahrhundertgeschichte.
Nir Baram:
«Gute Leute». Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Hanser, München 2012, 464 S., 24,90 €