»Weißt du, Levi, es ist ganz einfach«, erklärte mir vor einigen Jahren ein chassidischer Lehrer in einem Antwerpener Buchladen in bestem Jiddisch. »Wir leben hier mit unserem hoyf (chassidischen Hof) in Antwerpen, aber unsere alte Heimat ist Pshevorsk, das liegt in Polen. Daher kommen unsere Pshevorsker Bräuche, Melodien, unsere Kleidung und so weiter. Unsere Familiennamen und unsere Sprache, Jiddisch, weisen aber auf unsere noch ältere Heimat Aschkenas, heute Deutschland, hin. Doch unsere älteste Heimat, das ist das Land Israel. Daher kommt unser Glaube, unsere Identität, unsere Seelen, alles. Und dahin werden wir auch dereinst zurückkehren. Nach Hause also.«
Die Tora als Fundament der jüdischen Religion ist zugleich auch das Nationalepos des jüdischen Volkes. Und dieses Epos ist ein Epos der Migration. Avraham bricht darin von Ur gen Kenaan, das verheißene Land, auf. Sein Urenkel Jossef, ein Urenkel Avrahams, wird von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft. Dieser holt im Angesicht einer Hungersnot nach einer Versöhnung seine Familie nach Ägypten, was für die zahlreichen Nachkommen der Familie zu einem Sklavenhaus werden sollte, aus dem es sich später zu befreien galt.
G’tt beendet Knechtschaft und Exil und bringt sein Volk nach langer Wanderung und einigen Zwischenstationen zurück ins verheißene Land Israel. Nur hießen die Zwischenstationen hier nicht wie bei dem oben genannten Chassid Aschkenas, Pshevorsk und Antwerpen, sondern Etam, Mara oder Kadesch.
Migration Neben diesen gibt es im Tanach noch einige andere Migrationsbewegungen zum Lande Israel hin oder zeitweise von dort weg. Israel bleibt dabei stets der Bezugspunkt all dieser Bewegungen, es ist der schlechthinnige Sehnsuchtsort des Judentums, die ideale Heimstätte. Und als solcher Sehnsuchtsort muss die Heimstätte in den biblischen Narrativen immer wieder erreicht, dann verteidigt werden und droht immer wieder verloren zu gehen.
Der ideale Sehnsuchtsort muss immer wieder erreicht und verteidigt werden.
Es gibt unterschiedliche Vorstellungen von Heimat und Fragen nach Heimat in jüdischen Narrativen: Heimat und Heimatlosigkeit im Kontext von Sukkot und was dieses Fest in Zeiten von Flucht bedeuten konnte; den Zusammenhang von Ja’akovs Aufbruch zu seinem Sohn Jossef nach Ägypten und dem jüdischen Dasein in der Diaspora; wie jüdische Künstler aus Vilna die ersehnte Heimatstadt Jerusalem verblüffenderweise wie ihr Vilna malten; warum Juden auf dem Balkan spanische Hausschlüssel in ihren Familien weitervererbten; inwiefern Heimat im eigenen Zuhause verortet werden kann oder wo das Land Israel eigentlich auch zu finden ist.
Boden Diese letzte Frage, wo das Land Israel eigentlich auch zu finden sei, war die erste Frage nach Heimat, die mir als Jugendlichem gestellt wurde. Unser Rabbiner fragte einst eine Gruppe Heranwachsender, in der auch ich mich befand, in der Synagoge nach einem G’ttesdienst, als wir um ihn im Halbkreis auf dem Boden saßen, ob wir mit dem Finger in die Richtung deuten könnten, wo Israel, unsere geistige Heimat, liegt. Manche Jugendliche deuteten zaghaft in die falsche Richtung, andere bestimmt, aber dennoch nicht richtig. Wieder andere zeigten wechselnd mal nach hier, mal nach dort.
Ich zeigte spitzfindig zum Aron Hakodesch, zum Toraschrein, da er stets an der Ostseite steht, gen Israel, gen Jerusalem, gen Zion, dort, wo der Tempel einst gestanden hatte. Unser Rabbiner musste schmunzeln. »Ja, dort ist auch Israel. Aber unsere Heimat ist viel näher.« Er blickte in verwirrte Gesichter – und deutete auf den Boden. Ich weiß noch, wie einer der Jugendlichen fragte: »Sind wir jetzt in Israel, oder was?!« »Ja«, entgegnete unser Rabbiner lachend, »Israel ist auch hier! Der Boden einer jeden Synagoge ist auch der Boden Israels. Der Boden unserer Heimat. Ihr sitzt darauf!«
Rückzug Ich war perplex und musste lange darüber nachdenken, was das eigentlich bedeutete: dass in jeder Synagoge ein Stück Heimat sei. Dass dieses konkrete Land Israel auch in Westfalen zu finden sein solle. Dass eine jüdische Gemeinschaft einen Raum durch eine Torarolle zu einer Synagoge macht und so der Boden einer Synagoge transformativ zum Boden des Landes Israel werde. So kann eine jede Synagoge auch einen Rückzug zu diesem Sehnsuchtsort Israel bieten, wenn das Land außerhalb der synagogalen Mauern wenig nach Heimat anmutet oder einem sogar feindlich wird.
Auch in Westfalen gibt es in jeder Synagoge ein Stück Israel.
Diesen Gedanken fand ich als Jugendlicher faszinierend: eine Heimat, die nicht an fixe Landesgrenzen gebunden ist. Und später kam der Gedanke des chassidischen Lehrers hinzu: viele Heimaten, die man in sich trägt, verquickt mit einer ungewöhnlichen Melange aus Heimweh nach der ältesten und Sehnsucht nach der vielleicht ja einmal erneuten Heimat Israel. »Ich lebe zwar in Antwerpen«, hatte er noch gesagt, »aber ich vergesse mein Jerusalem nicht.«
Der Autor ist Judaist und Co-Schulleiter am Jüdischen Gymnasium München. Im aktuellen »Kursbuch« ist er mit dem Essay »Wenn ich dich vergäße, Jerusalem« vertreten.