Der muslimische Autor Eren Güvercin hat vor antisemitischer Radikalisierung auf TikTok gewarnt. Islamistische Influencer hätten ihre Inhalte nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel vor gut einem Jahr ungehindert verbreiten können, sagte er auf der bis Freitag andauernden Fachtagung »Antisemitismus und politischer Islamismus« in Münster.
Mit den antisemitischen Videos hätten die TikToker eine Lücke gefüllt, die muslimische Verbände in Deutschland gelassen hätten. Güvercin warf den großen islamischen Verbänden vor, den Überfall vom 7. Oktober nicht ausreichend verurteilt, sondern relativiert zu haben.
Jugendliche orientierungslos
Als Beispiel nannte er eine gemeinsame Erklärung der Islamverbände und des Landes Nordrhein-Westfalens. Darin bekräftigten die Verbände, dass sie nicht zuzulassen, »dass die terroristischen Angriffe der Hamas auf unseren Straßen bejubelt oder auch nur relativiert werden«.
Güvercin kritisierte, auf den Internetseiten des deutsch-türkischen Moscheeverbands Ditib und anderer muslimischer Verbände sei die Erklärung nicht zu finden gewesen. Außerdem hätten sie diese Position nicht in die muslimischen Gemeinden getragen.
Als Vorsitzender der Alhambra Gesellschaft, die unter anderem politische Bildungs- und Kulturangebote für muslimische Jugendliche macht, erlebt Güvercin nach eigener Aussage viele muslimische Jugendliche, die orientierungslos sind. Es sei den Verbänden nicht gelungen, ihnen Orientierung zu geben.
Mangel an Vorbildung
Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, kritisierte, dass das Engagement für jüdisches Leben hierzulande nicht beständig sei. Nach antisemitischen Vorfällen oder Anschlägen sei die Öffentlichkeit empört. Dann reagiere auch die Politik, indem sie mehr Geld für den Einsatz gegen Antisemitismus verspreche. Nach einiger Zeit verebbe das öffentliche Interesse aber wieder, so der frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete.
In einer besonderen Verantwortung, Antisemitismus entgegenzutreten, sieht Beck Lehrer und Polizisten. Einigen falle es schwer, gegen Diskriminierung einzustehen. Das liege daran, dass das Thema in der Ausbildung nicht vorgesehen sei. »Für viele Lehrer und Polizisten ist die Geschichte des Antisemitismus ein blinder Fleck.«
Pädagogen überfordert
Eine Überforderung vieler Lehrer beobachtet auch der frühere jüdische Schulleiter Levi Israel Ufferfilge. Er berichtete von Drohungen von Eltern gegen eine Lehrerin, als sie mit ihrer Klasse das »Tagebuch der Anne Frank« lesen wollte. Der Rabbiner warnte: »Qualitativ und quantitativ hat der Antisemitismus in Deutschland seit dem 7. Oktober ein Niveau erreicht, das weder ich noch meine Eltern zuvor kannten.«
Die Tagung an der Universität Münster widmete sich dem Thema Antisemitismus, der seit dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem Krieg im Gazastreifen zugenommen hat. Sie stand unter der Federführung der Forschungsstelle »Islam und Politik« sowie des Exzellenzclusters »Religion und Politik«.