»Wir sollten über das sprechen, was uns verbindet.« Dieser Satz könnte so oder so ähnlich von Moses Mendelssohn stammen. Zumindest geht Grazyna Jurewicz davon aus, wenn sie Zeitzeugen liest, die den Philosophen beschreiben. Er soll konfliktscheu gewesen sein, sanft, auf Dialog ausgerichtet und habe jedem Respekt gezollt. Geboren wurde er 1729 in Dessau. Am 6. März erhält die Religionsphilosophin genau dort den Moses-Mendelssohn-Preis 2022.
Sie sei dankbar für den Preis und damit auch für die Anerkennung ihrer Arbeit, sagt Jurewicz. Seit einem Jahr ist sie Juniorprofessorin am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität Potsdam. Davor forschte und lehrte sie in Frankfurt am Main, sammelte in Toronto, Mainz und Düsseldorf Erfahrung. Studiert hat sie in Prag und Potsdam.
LEBENSGESCHICHTEN »Etwas, was mich immer interessierte, ist das Aufeinanderstoßen der großen Geschichte und einzelner Lebensgeschichten.« Es sei jener Moment, wo eine individuelle Biografie geformt werde, aber auch Wirkung entfalten könne. Wenn »unterschiedliche Zeitschichten aufeinanderstoßen«, sagt Jurewicz, »sind es gerade einzelne Lebensgeschichten, in denen die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen besonders sichtbar werden kann.«
Das »biografische Schreiben in Geschichte und Gegenwart« ist einer ihrer Arbeitsschwerpunkte.
Vielleicht war es die eigene Familiengeschichte, die sie einst inspirierte, genauer hinzuhören, zu fragen und zu überlegen: In welchem Kontext stehen Biografien? Schon früh erfuhr sie selbst vom Leben ihrer Großeltern, die Vertriebene aus der heutigen Ukraine und Belarus waren und sich nach 1945 im polnischen Riesengebirge niederlassen sollten – so sah es die politische Nachkriegsordnung vor –, wo früher Deutsche ihr Hab und Gut zurückgelassen hatten.
Lebhaft schildert Jurewicz das Haus der Großeltern, in dem sie aufwuchs, und das für die neuen Besitzer jahrzehntelang kein Zuhause sein sollte. Zu groß war die Sehnsucht nach der früheren Heimat, die keine mehr war, und groß war auch die Hoffnung, wieder dorthin zurückzukehren. Das Leben spielte anders. Und vermutlich sind es die Brüche, die Grazyna Jurewicz motivieren, als Religionsphilosophin auf jüdische Biografien zu blicken. Das »biografische Schreiben in Geschichte und Gegenwart« ist einer ihrer Arbeitsschwerpunkte, ebenso die Haskala, die jüdische Aufklärung.
FREUNDSCHAFTEN Geboren wurde Grazyna Jurewicz 1979 in Oberschlesien. Zwar habe sie keine jüdischen Wurzeln, erzählt die Wissenschaftlerin, doch es ging ihr schon als Kind sehr nahe, wenn ihr Vater davon berichtete, dass seine jüdischen Freunde 1968 Polen verlassen hatten, weil die antisemitischen Anfeindungen zu groß waren. »Das war ein Verlust, der ihn sein Leben lang beschäftigte, der Verlust der jüdischen Freundschaften. Dieser Verlust war ein sehr wichtiger Teil des Gedächtnisses unserer Familie.« Und er stand symbolisch für die »Abwesenheit der Juden« in der polnischen Gegenwart.
Moses Mendelssohn hat ein Denken vertreten, das für ein individuelles Recht auf die Selbstentfaltung in Freiheit stand.
Als Wissenschaftlerin hat sie nach den Ursachen für diese »Abwesenheit« gefragt und bei Moses Mendelssohn einen Anker gefunden, bei jenem Aufklärer, der mit Lessing befreundet und ein Zeitgenosse Kants und Rousseaus war, der Westjiddisch und Hebräisch sprach, als Hochbegabter Deutsch, Französisch, Englisch und Griechisch selbst erlernte und einer der führenden Philosophen und Intellektuellen des Landes werden sollte.
Mendelssohn, so Jurewicz, habe voller Optimismus ein Denken vertreten, das für ein individuelles Recht auf die Selbstentfaltung in voller Freiheit stand. In seinem Hauptwerk Jerusalem gehe es genau darum, dieses universelle Recht auch für Juden einzuklagen und das Judentum gegenüber den Christen als aufgeklärte Religion zu vertreten. Mendelssohns Argument: Es sei die Religion der Vernunft − eine, die ein richtiges Handeln erfordere. Die aber keinem sage, was zu denken sei.