Schoa

Was damals geschah: Die Deportation meiner Großeltern

Was mit den Juden in Hitler-Deutschland und den später besetzten Gebieten geschah, darüber sind wir aus den Geschichtsbüchern mehr oder weniger gut unterrichtet. Über viele Einzelschicksale weiß die Öffentlichkeit jedoch immer noch vergleichsweise wenig. Das gilt auch für meine Großeltern Käthe und Julius Schoeps. Sie beide sind, wie so viele andere deutsche Juden, einen schweren Weg gegangen.

Als am 4. Juni 1942 Reinhard Heydrich, der deutsche Sicherheitspolizeichef und stellvertretende Reichsprotektor in Prag, einem Attentat tschechischer Freiheitskämpfer erlag, wurden – in einer quasi »Strafaktion« der Nazis – kurz darauf 500 Berliner Juden zusammengetrieben. Die eine Hälfte von ihnen wurde sofort erschossen, die andere Hälfte zur Deportation »begnadigt«. Unter denen, die zur Deportation »begnadigt« wurden, hat sich auch Julius Schoeps befunden haben, mein Großvater.

Theresienstadt Noch am gleichen Tag wurde mein Großvater mit anderen »Begnadigten« per Güterwagentransport in das böhmische Theresienstadt (tschechisch Terezín) verbracht. Meine Großmutter Käthe, geborene Frank, 22 Jahre jünger als mein Großvater, begleitete ihn aus freien Stücken dorthin. Sie wollte ihren Mann nicht allein lassen und an seiner Seite bleiben. Sie hatten bis zum Zeitpunkt der Deportation in einer »Judenwohnung« im Berliner Stadtteil Charlottenburg hausen müssen. Ihr Vermögen war zuvor schon von den Behörden eingezogen worden.

Beide hatten vor der Deportation noch die Nachricht erhalten, dass das sehnlichst erwartete Enkelkind – meine Wenigkeit also - glücklich zur Welt gekommen war, und freuten sich, dass das Kind den Namen des Großvaters trug. In dem Glückwunschschreiben, das sie schickten, rieten sie ihrem Sohn und dessen Ehefrau, keine Entscheidung zu fällen, die vielleicht künftig für das Kind zur Belastung werden könnte.

»Ich halte es nicht für richtig«, bemerkte meine Großmutter in diesem Schreiben, »das Kind beschneiden zu lassen und zum Judentum zu erziehen. Nach meinen Erfahrungen bin ich absolut für Assimilierung«. Mein Vater hat sich im schwedischen Exil an diesen Rat nicht gehalten. Er ließ seinen Sohn beschneiden und war bemüht, ihn im Judentum zu erziehen.

brief In einem Brief, den mein Vater 1943 unter dem Eindruck der damaligen Geschehnisse verfasste und der mir 12 Jahre später, am Tage meiner Bar Mitzwah, im Nach-Hitler-Deutschland, in den frühen Jahren der Bundesrepublik also, ausgehändigt wurde, heißt es:

»Ich konnte als Dein Vater nichts andres tun als für das Selbstverständliche sorgen, daß Du in den Bund der Beschneidung aufgenommen wurdest und daß Du nach Möglichkeit eine jüdisch-religiöse Erziehung erhältst. Nach jüdischem Brauch bist Du mit dem heutigen Tag mündig und es ist in Deine Hand gelegt, wie Du es mit der Thora halten willst.«

Aber zurück zu meinem Großvater, zu Julius Schoeps, der 1864 in Neuenburg, Kreis Schwetz, Regierungsbezirk Marienwerder (in West-Preußen) als Sohn eines Ziegeleibesitzers geboren wurde. Nach einem Medizinstudium und anschließender Approbation war er 47 Jahre lang als Arzt in Berlin tätig.

Zeit seines Lebens verstand Julius Schoeps sich als Preuße und bekannte sich zur Monarchie und zu den Hohenzollern. Besonders stolz war er darauf, dass er seine Militärdienstzeit als »Einjährig-Freiwilliger« beendet hatte. Dem 2. Gardedragoner-Regiment Kaiserin Alexandra von Russland, dem er als einziger Jude angehörte, fühlte mein Großvater sich besonders verbunden.

Als meinem Großvater Ende der dreißiger Jahre von den Nazis die Approbation entzogen wurde, und er nur noch als »Heilbehandler« für »Nichtarier« zugelassen werden sollte, verzichtete er darauf, weiter zu praktizieren. Den Gedanken an eine Auswanderung wies er jedoch mit Entrüstung zurück. »Ich habe nichts Unrechtes getan, ich habe keinen Grund, aus meinem Vaterlande fortzugehen«. Er dachte wie so viele deutsche Juden, die meinten, Hitler und die Nazis seien zwar ein Übel, ein schlimmes Übel, aber letztlich ein vorübergehender Spuk.

Nach ihrem Verständnis war es unmöglich, dass eine Obrigkeit unrechtmäßig handelt.

Wie alle im Land verbliebenen Juden mussten meine Großeltern die Vornamen »Israel« beziehungsweise »Sara« annehmen und den gelben Judenstern anheften. Sie taten es widerspruchslos, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich gar nicht vorstellen konnten, den Anordnungen der Obrigkeit zu widersprechen. Nach ihrem Verständnis war es unmöglich, dass eine Obrigkeit unrechtmäßig handelt. Als sie schließlich doch den Antrag auf Ausreise stellten, war es bereits zu spät.

Ende 1941 war den Juden von den deutschen Behörden die Auswanderung untersagt worden. In den erhaltenen Familienpapieren befindet sich ein kleiner unscheinbarer Zettel mit Personenstandsdaten in der Handschrift meiner Großmutter, von dem ich nur vermuten kann, über welche Umwege er in meinen Besitz geraten ist. Wahrscheinlich hatte meine Großmutter ihn zur Beantragung der Einreisevisa für Schweden meinem Vater geschickt, der die Daten zur Ausfüllung von Formularen benötigte. Mein Vater hat den Zettel aufgehoben. Heute ist er ein historisches Dokument.

Aber zurück zu meinem Großvater. Er ist ein halbes Jahr nach seiner Deportation in Theresienstadt, kurz nach seinem 79. Geburtstag, qualvoll verstorben. Die Ursache war eine Urämie, die medizinisch nicht behandelt wurde. Wie sehr die Verrohung menschlicher Umgangsformen um sich griff, zeigte sich wenig später.

Ende 1942 wurden die Verstorbenen nicht mehr begraben, sondern entgegen dem jüdischen Ritus verbrannt. Zu diesem Zweck betrieb das sogenannte Ghetto Theresienstadt ein eigenes Krematorium. Die Asche meines Großvaters wurde in eine Schachtel gefüllt und zusammen mit 20 000 anderen Schachteln beziehungsweise Behältern, in denen sich die Asche verbrannter Juden befand, gelagert.

Im November 1944 wurden, wie berichtet wird, die jüdischen Frauen, die sich noch im KZ Theresienstadt befanden, von der Lagerverwaltung gezwungen, die Asche der Toten in den nahegelegenen Fluss – die Eger – zu schütten. Letzteres hat meine Großmutter nicht mehr miterlebt, es hätte ihr sicherlich unendliche Qualen bereitet.

Mein Vater, Hans-Joachim Schoeps, erfuhr vom Tod seines Vaters dadurch, dass seine Mutter, meine Großmutter also, unter der Empfangsbestätigung eines Päckchens den Zusatz »Witwe« vermerkt hatte. Später erreichte ihn ein Brief aus Theresienstadt mit Datum vom 1. Januar 1943, in dem es hieß:

»Am 27. Dezember (1942) ist Dein lieber Vater nach längerem Krankenlager gestorben. Ich war in seiner letzten Stunde bei ihm, er hat nicht gelitten und ist sanft hinübergeschlummert. Seine letzte Freude war Deine liebe Karte, die ich immer wieder vorlesen musste.«

Im besagten Bar Mitzwah-Brief, der mir Anfang der 1950er Jahre ausgehändigt wurde, gibt es eine Passage, die auch deshalb erwähnenswert ist, weil sie unmittelbar Bezug auf meinen Großvater nimmt:

»Er [Julius Schoeps] selber hatte zur jüdischen Religion kein inneres Verhältnis mehr […], aber er hat den Gedanken der Taufe stets von sich gewiesen. Um 1890 schlug sie ihm der Oberst des Regiments, in dem er als Unterarzt diente, vor und sagte ihm, wenn er das täte, eine glänzende Karriere als Soldat voraus. Dein Großvater hat Nein gesagt, weil er ein Ehrenmann war. Er ist auch so im Ersten Weltkrieg zum Oberstabsarzt im Dienstrange eines Majors befördert worden.«

Und weiter wird in diesem Brief bemerkt, dass jeder Mensch in einer Kette des Blutes und der Erinnerung steht, »die für die Juden nach unserem Glauben«, so mein Vater, »bis zum Sinai zurückreicht«. Und weiter heißt es in dem Brief: »Das ist ein großes Mysterium: Auch Du hast dort gestanden, auch Dir gelten alle Verheißungen und Strafandrohungen, die Gebote der Thora als Richtschnur für das Leben und die kommende Erlösung von aller Schuld.«

»Das Gedenken der Kette, das sichron awotejnu, ist deshalb für uns so wichtig. Das Heraustreten aus ihr ist der geistige Tod: Aber solange noch ein jüdisches Kind nach seinem Vater Kaddisch sagt, solange gibt es Judentum und – dies ist das zweite Geheimnis – solange gibt es individuelle Unsterblichkeit.«

Meine Großmutter wurde am 18. Mai 1944 unter der Transportnummer Eb 2263 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. In einem Brief, den Rabbiner Leo Baeck nach dem Krieg am 21. Januar 1946 an meinen Vater schrieb, heißt es: »Mit Ihrer Mutter war ich, so oft es möglich war, zusammen, und es war immer eine gute Stunde, wenn ich sie sah und hörte. Es ging ihr, wenn sie auch unter all dem Elend, so wie wir alle, schwer litt, noch erträglich. Sie war in einer der großen Kasernen untergebracht … Zu meinem großen Schmerz ist Ihre Frau Mutter im Mai 1944 … nach dem Osten geführt worden.«

Wahrscheinlich wurde meine Großmutter, wie die meisten anderen Unglücklichen auf dem Transport, nach der Ankunft in Auschwitz direkt ins Gas geschickt. Das letzte von ihr überkommene schriftliche Lebenszeichen ist die Empfangsbestätigung für ein Paket, das ihr mein Vater 1944 aus Schweden geschickt hatte. Es trägt das Datum vom 10. März 1944 und enthält die handschriftliche Bemerkung: »Ich habe mich sehr über das Päckchen gefreut, insbesondere über das Obst und die Süßigkeiten.«

Die Schauspielerin und Regisseurin Käthe Starke-Goldschmidt, eine Jugendfreundin meines Vaters, die Theresienstadt überlebte, war vermutlich die letzte aus dem Bekanntenkreis, die meine Großmutter lebend sah. Sie sprach mit ihr kurz vor ihrem Abtransport nach Auschwitz. In ihrem Erinnerungsbuch »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt« gibt es eine kurze Passage, in der sie mit wenigen, aber sehr einfühlsamen Strichen ein Bild meiner Großmutter zeichnete: »Mit ihrem hellblauen Kopftuch sah sie sehr zart und jung aus…«.

Den historischen Quellen zufolge wurden zwischen dem 14. November 1941 und dem 20. April 1945 140 000 Juden nach Theresienstadt verbracht. Von diesen starben 33 000 am Ort, 88 000 wurden in die Vernichtungslager deportiert, 19 000 waren noch am Leben, als das Ghetto befreit wurde. Meine Großeltern haben nicht dazu gehört.

In der heutigen Bundesrepublik Deutschland hat man es mittlerweile verstanden, was man an den einstigen deutschen Jüdinnen und Juden verloren hat.

Wir leben heute, Gott sei’s gelobt (»Baruch HaSchem«), in anderen Zeiten. In der heutigen Bundesrepublik Deutschland hat man es mittlerweile verstanden, was man an den einstigen deutschen Jüdinnen und Juden verloren hat. Begriffen haben das die Soldatinnen und Soldaten des Sanitätsregiments 1 der Bundeswehr, die sich zu diesem Verlust bekennen. Im Dezember eines jeden Jahres gedenken sie des Todestages meines Großvaters, des einstigem Oberstabsarztes Dr. Julius Schoeps.  

Erinnerung Jedes Jahr wird an einem eigens für meinen Großvater geschaffenen Gedenkstein auf dem Gelände des Sanitätsregiments 1 in Berlin-Kladow in einer militärischen Zeremonie des Oberstabsarztes Dr. Julius Schoeps gedacht. Würde er dieses jährliche Zeremoniell persönlich erleben können, wäre das sicherlich für ihn eine späte Genugtuung.

Sonst erinnert an meine Großeltern und ihr Schicksal heute nur noch das eher versteckt liegende Familiengrab auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee in Berlin (Feld C 7). Ich habe, obgleich sie dort nicht ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, auf dem dort befindlichen Grabstein ihre Namen, Geburts- und Sterbedaten von einem Steinmetz einmeißeln lassen.

Nach jüdischem Brauch legt der Friedhofsbesucher im Gedenken an den Verstorbenen einen kleinen Kieselstein auf dem Grabstein nieder. Auf diese Art und Weise gedenkt er damit nicht nur der Verblichenen, die auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, sondern auch derjenigen, die in der Shoa ihr Leben verloren und für die keine letzte Ruhestätte vorhanden ist - so auch im Fall meiner Großeltern Käthe und Julius Schoeps.

Julius H. Schoeps ist Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und Vorstandsvorsitzender der Moses Mendelssohn Stiftung.

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