Meinung

Was, bitte, ist jüdisches Dirigieren?

Michael Wuliger Foto: Marco Limberg

Es gibt jüdische Philosophie, jüdische Literatur, jüdische bildende Kunst. Aber gibt es auch eine spezifisch jüdische Art und Weise, ein Orchester zu dirigieren? Nicht einmal der notorische Antisemit Richard Wagner hat das behauptet. Seine Hetzschrift Das Judenthum in der Musik von 1850 polemisierte primär gegen jüdische Komponisten, nicht gegen Orchesterleiter.

Warum dann wird die Tatsache, dass Kirill Petrenko, der neue designierte Chef der Berliner Philharmoniker, jüdisch ist, in deutschen Feuilletons zum Thema? Und das zum Teil mit fragwürdigen Untertönen, wie Eleonore Büning in der »Frankfurter Allgemeinen« nachgewiesen hat? Da stellte Sabine Lange im NDR Petrenko seinem Konkurrenten um den Berliner Posten, Christian Thielemann, gegenüber: letzterer als »Experte deutschen Klanges«, Petrenko als Alberich aus Wagners Ring, »der winzige Gnom, die jüdische Karikatur«. (Der NDR hat sich dafür inzwischen entschuldigt.)

rassenspuk Und in der »Welt« wies deren Musikredakteur Manuel Brug darauf hin, dass mit dem derzeitigen Generalmusikdirektor bei der Bayerischen Staatsoper »neben Daniel Barenboim und Ivan Fischer der dritte Jude auf einen Berliner Chefsessel« rückt. Nicht böse gemeint, vielleicht: Brug fügte online nachträglich hinzu »erfreulicherweise 70 Jahre nach dem braunen Rassenspuk«. Aber warum überhaupt erwähnte er es?

An Kirill Petrenko kann es nicht liegen. Der hat aus seinem Judentum nie viel Aufhebens gemacht. Im Gegensatz zu einigen deutschen Feuilletonisten. Bei der Pressekonferenz der Philharmoniker, auf der die Entscheidung für Petrenko bekannt gegeben wurde, kam aus den Reihen der Journalisten die Frage, warum man keinen Deutschen zum neuen Dirigenten gewählt habe. Für manche hiesigen Medienmenschen ist offenbar Judentum immer noch – oder schon wieder – etwas, das Anstoß erregt.

normalität Das Paradoxe dabei ist, dass eben dieselben Medien seit Jahren immer wieder gerne eine angebliche neue deutsch-jüdische Normalität nach Auschwitz beschwören.

Jede Synagogeneinweihung in der Provinz, jeder jüdische Bundeswehrsoldat, zuletzt junge Israelis, die – angeblich zu Zehntausenden – nach Berlin ziehen, werden als Zeichen dafür bejubelt, dass die Geister der Vergangenheit endlich ruhen. Den Beweis des Gegenteils hat die Petrenko-Berichterstattung gerade erbracht. Normal ist das nicht.

Der Autor ist Publizist in Berlin.

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 23. bis zum 30. Januar

 16.01.2025

Freiburg

Kurde aus Syrien eröffnet israelisches Restaurant

Der Besitzer wird schon länger bedroht. Er lässt sich jedoch nicht abschrecken

von Christian Böhmer  16.01.2025

Malerei

First Ladys der Abstraktion

Das Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden zeigt farbenfrohe Bilder jüdischer Künstlerinnen

von Dorothee Baer-Bogenschütz  15.01.2025

Frankreich

Iris Knobloch bleibt Präsidentin des Filmfestivals Cannes

Sie ist die erste Frau an der Spitze des Festivals

 15.01.2025

London

Autor Neil Gaiman weist Vorwürfe sexueller Übergriffe zurück

Im »New York Magazine« werfen mehrere Frauen dem britischen Fantasy- und Science-Fiction-Autor entsprechende Taten vor. Nun äußert sich der 64-Jährige

 15.01.2025

Literatur

Die Heimatsuchende

Vor 50 Jahren starb Mascha Kaléko. Ihre Dichtung bleibt erschreckend aktuell

von Nicole Dreyfus  15.01.2025

TV-Tipp

Furchtlose Kunstliebhaber in der NS-Zeit

Während des Nationalsozialismus sollten »entartete« Kunstwerke beseitigt werden, aber einige Mutige setzten zur Rettung der Werke ihr Leben aufs Spiel. Eine 3sat-Dokumentation zeichnet einige Fälle nach

von Wolfgang Wittenburg  15.01.2025

Konzerte

Yasmin Levy in München und Zürich

Die israelisch-türkische Künstlerin aus einer sephardischen Familie singt auf Ladino, bzw. Judäo-Spanisch, einer fast vergessenen Sprache

von Imanuel Marcus  15.01.2025

Leipzig

»War is over« im Capa-Haus

Das Capa-Haus war nach jahrzehntelangem Verfall durch eine bürgerschaftliche Initiative wiederentdeckt und saniert worden

 14.01.2025