Kulturkolumne

Was bedeutet das Wort »Jude«?

Foto: Getty Images

»Denn von mir selbst wusste ich, dass ich gar nichts weiß«, schreibt Platon in der Apologie des Sokrates. Genauso unwissend fühlte ich mich, als ich mir vor ein paar Tagen – statt eines Philosophen – den Schiur eines orthodoxen Rabbiners reinzog. Denn der Rabbi erklärte in seinem Vortrag ein Wort, dessen Bedeutung ich mir nie bewusst gemacht hatte, als ich, wie viele Juden, die ersten Lebensjahrzehnte nach meiner »jüdischen Identität« suchte; eine Nabelschau, die mir längst zum Hals heraushängt.

Wer sind wir, und wenn ja, wie viele? Wie viele Traumata passen in einen gepackten Koffer? Warum fühlen wir uns heute, als wäre es gestern? Gibt es trotzdem ein Morgen, und wie werden wir uns dann fühlen? Wohin wollen wir auswandern? (Zwischenfrage: Warum sollte es woanders besser sein?) Und wo, fragte ich mich als Studentin – genauso, wie dieses Anliegen jüdische Studierende noch heute umtreibt –, bleibt die »positive jüdische Identität«?

Der Rabbi stellte scheinbar eine ganz andere Frage. »Was bedeutet das Wort ›Jude‹?« Die Antwort gab er natürlich selbst: Abgeleitet wird das hebräische Substantiv »Jehudi« vom hebräischen Verb »lehodot«, auf Deutsch: »Danken«. Jude zu sein, bedeutet also, dankbar zu sein. Was für ein Glück, dass ich diesen Schiur nicht vor fünf Jahren gehört habe, als ich noch in unserer Familiengeschichte wühlte, sonst hätte ich einfach nur gelacht. (Lesen Sie Der Nazi & der Friseur von Edgar Hilsenrath, und Sie wissen, was ich meine.) Aber zurück zum Thema.

War ich undankbar – oder einfach nur ignorant?

Die Atheistin, die ich vor fünf Jahren war, hätte nie dem Schiur eines orthodoxen Rabbis gelauscht. Die Agnostikerin, die ich heute bin, ist perplex. »Jude zu sein, bedeutet, dankbar zu sein.« Wie kommt es, dass ich als jüdische Journalistin das Wort jeden Tag im Mund führe und nie über seine Bedeutung nachgedacht habe? War ich undankbar – oder einfach nur ignorant?

Apropos: Politiker bezeichnen uns Juden in Deutschland gern als »unverdientes Geschenk«. Sind sie wirklich dankbar dafür, dass wir hier leben? Oder haben sie das Geschenk in Wahrheit nie ausgepackt und würden uns lieber umtauschen, wenn das Glanzpapier ab ist, die (gelben) Schleifen nerven und die »Schonfrist« endet? Man kann nie wissen. Gibt es für uns eigentlich Ersatz?

Ich jedenfalls habe mich beim Rabbi bedankt. Weil er mir einen Weg gezeigt hat jenseits des Selbstmitleids, in dem wir nach dem 7. Oktober 2023 so tief versunken sind. Der Krieg, die Kriege, die Antisemiten, die schlechten Nachrichten, es nimmt kein Ende. Oy vey, Gevalt! Wir Armen! Wir Ärmsten! Aber sind wir das wirklich?

Sind Juden ein »unverdientes Geschenk«?

Es ist alles noch da. Demokratie. Meinungsfreiheit. Versammlungsfreiheit. Über zwei Drittel der Bevölkerung, die keine Populisten wählen. Mehr als genug zu essen. Restaurants an jeder Ecke. Unsere Arbeit. Unsere Zeitung. Die Gemeinden. Die Familie. Und kein Krieg in unserem Land, der unser Leben bedroht.

Nein, jetzt folgen keine Ratschläge oder frommen Sprüche. Ich werde kein »Dankbarkeitstagebuch« schreiben oder jeden Morgen den »Moda Ani«-Segen aufsagen: »Ich danke Dir, lebendiger und ewig bestehender König, dass Du mir meine Seele in Barmherzigkeit zurückgegeben hast.« Vielleicht einmal die Woche?

Ich bin mir zwar nicht sicher, bei wem ich mich bedanken würde. Ich weiß, dass ich nichts weiß … Doch eines weiß ich bestimmt: Wir können nur verteidigen, was wir haben, wenn wir dafür dankbar sind. Denn selbstverständlich ist nichts.

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