Ilana Lewitan wusste kaum etwas darüber, wie ihr Vater die Schoa überlebt hat – bis sie eine Mail in ihrem Postfach findet. Darin schreibt ihr der Enkel eines ehemaligen SS-Offiziers, der ihren Vater vor einer Erschießung gerettet haben soll. Begleitet von Journalisten, fahren die beiden auf den Spuren ihrer Vorfahren nach Warschau. Auf der Reise entstehen ein Podcast und eine Dokumentation. Doch es zerbricht auch etwas: Zwischen dem Enkel des Mittäters und der Familie des Überlebenden tut sich ein tiefer Graben auf. Im Gespräch reflektieren Ilana und ihre Töchter Lea und Joëlle, wie schwer es auch Generationen später noch ist, sich der Vergangenheit zu stellen.
Lea, Sie waren drei Jahre alt, als Ihr Großvater starb, Joëlle hat ihn nie erlebt. Trotzdem war es Ihnen wichtig, Ihre Mutter nach Warschau zu begleiten. Warum?
Lea Lewitan: Ich habe schon in meiner Schulzeit ganze Nachmittage bei meiner Omi verbracht, um herauszufinden, wie die beiden überlebt haben. Sie hat dann zum Beispiel erzählt, wie mein Opi nach dem Krieg mit einem ungewöhnlich schicken Mantel im DP-Camp in Deutschland aufgetaucht ist. Durch diese Geschichten habe ich so ein Gefühl bekommen, wie der Opi als Mensch war: ein starker, autonomer Mann.
Ilana Lewitan: Ja, das war er. Er hatte eine sehr präsente Persönlichkeit, hat sich aber nie in den Vordergrund gespielt. Er war umtriebig, und er war humorvoll. Das war seine Überlebensstrategie und zugleich die
Resilienz, die er uns allen mitgegeben hat. Er schaute immer nach vorn.
Und er hat versucht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Ilana: Es gab nur Fragmente, die er mir offenbart hat. Er hat mir einmal erzählt, dass er eine Zeit lang mit einem jüdischen Jungen im Wald überlebte. Er konnte ihn dann wohl in Sicherheit bringen, und ihre Wege trennten sich. Viel später, in den 60er-Jahren, fuhr mein Vater mit einem Taxi durch Tel Aviv. Als er zahlen wollte, drehte sich der Fahrer tränenüberströmt zu ihm um. Am Steuer saß der Junge, den er gerettet hatte.
Lea: Diese Geschichte war für mich schon als Kind sehr präsent. Dieses Bild von dem Wald, das hat sich bei uns in der Familie eingeprägt. Und auch in den Kunstwerken von dir, Mama, spielt der Wald ja eine große Rolle.
Joëlle Lewitan: Ich glaube, dass unsere Großeltern immer nur kurze, eindrückliche Momente wiedergegeben haben, so wie die Begegnung im Taxi. Das ist repräsentativ für viele Überlebende, die einige ausgewählte Erinnerungen immer wieder wiederholen, ohne wirklich etwas preiszugeben. Für uns nachfolgende Generationen hat die große Geschichte gefehlt.
Vor drei Jahren änderte sich das. Ilana, Sie haben eine Mail bekommen. Ausgerechnet vom Enkel eines SS-Offiziers, unter dem Ihr Vater Zwangsarbeit leisten musste.
Ilana: Von ihm erfuhr ich, dass mein Vater 1962 vor einem deutschen Gericht ausgesagt hatte. Man suchte damals Belege für die NS-Verbrechen. Ich weiß noch, dass ich die Dokumente in einem Zug durchgelesen habe, ich war wie benebelt. Und dann wollte ich natürlich, dass auch meine Töchter sie lesen. Aber sie haben das hinausgezögert.
Joëlle: Es ist nicht so, dass ich Berührungsängste mit dem Thema hatte. Ich habe mich viel damit beschäftigt, auch meine Bachelorarbeit zum Erbe der Schoa für die dritte Generation geschrieben. Aber ich fand nie den richtigen Moment dafür. Alles fühlte sich falsch an: Sollte ich die Grausamkeiten, die Willkür, das Morden, das mein Opi dort beschrieb, bei einem Kaffee in der Sonne lesen?
Lea: Bei mir war es ganz anders als bei meiner Schwester, die sich sehr analytisch mit der Schoa auseinandergesetzt hat. Das Thema war für mich immer sehr emotional. Ich hatte als Jugendliche eine Phase, in der ich fast nur noch Bücher über diese Zeit gelesen habe. Irgendwann, als ich im Urlaub wegen »Malka Mai« weinen musste, hat mein Papa gesagt: »Du nimmst jetzt kein Holocaust-Buch mehr in die Hand.« Daran habe ich mich gehalten. Eigentlich bis ich die Aussagen meines Opi gelesen habe.
Sie sind dann alle zusammen nach Polen gereist. Sie haben das Versteck im Keller entdeckt, in dem Ihr Großvater ausharren musste. Und Sie waren im Wald.
Lea: Ich hatte auch in Warschau das Gefühl, dass wir das anders erlebt haben als die Mama. Wir haben sehr viele Emotionen rausgelassen. Auch sehr viel Wut. Du (wendet sich an Ilana) bist da mit so einer Größe hineingegangen, hast dir vielleicht auch nicht so viel anmerken lassen. Du hast auch sehr viel Verständnis für Norman gezeigt, den wir dort getroffen haben.
Norman Baltrusch, der Enkel des SS-Offiziers. Der, der Ihnen die Mail geschickt hatte.
Ilana: Durch Norman habe ich mehr über das Leben meines Vaters in Warschau erfahren, und dafür bin ich ihm bis heute sehr dankbar. Aber er hatte ein anderes Interesse auf unserer Reise. Er hat nach den Spuren seiner eigenen Familie gesucht. Er war überzeugt davon, dass sein Opa ein guter Mensch war, auch in SS-Uniform. Denn er hatte in den Dokumenten Belege gefunden, dass sein Großvater Juden, die für ihn arbeiten mussten, vor der Erschießung bewahrt hatte. Nach allem, was wir heute wissen, war mein Vater aber nicht darunter.
Joëlle: Es gab jedoch andere Überlebende, die davon nach dem Krieg berichteten. Normans Opa war wohl kein Sadist. Aber er war trotzdem Teil des Systems.
Ilana: Ein System, in dem die meisten letztlich ermordet wurden – oder sich nur selbst retten konnten. So wie mein Vater, der im richtigen Moment die Flucht ergriffen hat, unglaublich mutig war und unter furchtbaren Bedingungen durchgehalten hat.
Joëlle: Es gab in Warschau dennoch immer wieder Situationen, in denen Norman diese völlig unterschiedlichen Biografien gleichgesetzt und versucht hat, eine Parallelität des Leidens entstehen zu lassen. Er hat uns alle gleichermaßen als Nachkommen einer traumatisierten Kriegsgeneration dargestellt, auch, vielleicht unbewusst, um seinen Großvater zu entlasten.
Lea: Als er uns erzählt hat, wie erschüttert er ist, weil sein Großvater in seinem Büro die Schreie aus dem nahen Folterkeller ertragen musste, da ist es bei uns gekippt. Da habe ich gemerkt, dass er niemals in der Lage sein wird, sich in gesundem Maße von seinem Opa zu distanzieren.
Ilana: Er hat den Anteil des Täters in seinem Großvater negiert. Er wollte ihn zum gerechten Helden machen.
Joëlle, Sie haben sich in Ihrem Studium mit dem Thema beschäftigt. Denken Sie, Normans Perspektive ist typisch für die Erinnerungskultur in deutschen Familien?
Joëlle: In vielerlei Hinsicht, ja. Die Nachkommen der Täter, angefangen mit der 68er-Bewegung, wollten das Narrativ etablieren, alle Nachgeborenen würden ein Schicksal teilen und gleichermaßen unter den Folgen des NS leiden. Dabei verneinten sie jegliche Unterschiede zwischen Tätern und Opfern. Ich empfand Norman auch sehr stellvertretend in der Art und Weise, wie er Juden und Jüdinnen wahrnahm. Er hatte ein sehr vorgefertigtes Bild von uns, das eng assoziiert mit der Schoa war. Er hatte uns ganz klare Rollen zugewiesen. Als wir diese nicht erfüllten, kam es zu Enttäuschungen und Irritationen. Viele Deutsche stellen Juden auf ein Podest, aber wenn sie dort nicht so agieren wie erwartet, wenn sie den Deutschen nicht zeigen, dass alles wieder gut ist, ist die Fallhöhe tief.
Lea: Das sieht man auch in unserer Generation am Beispiel von Israel. Mit den Juden in der Schoa können viele Empathie empfinden, aber nicht mit den Israelis, die sich heute gegen Vernichtungsversuche wehren.
Joëlle: Aber gleichzeitig wird dieses Bild von den wehrhaften Juden hier in Deutschland wieder von rechtskonservativen Parteien fetischisiert, instrumentalisiert!
Die Wut, die Sie beide in Warschau empfunden haben, spürt man auch jetzt.
Joëlle: Ich glaube, wie wütend man sein kann über das, was passiert ist, sagt ja auch sehr viel darüber aus, wie angekommen und sicher man sich in einer Gesellschaft fühlt. Wir sind in einer Generation aufgewachsen, in der wir mit viel größerer Selbstverständlichkeit jüdisch sein konnten. Wir trauen uns, uns den Raum für unsere Gefühle zu nehmen, auch für unsere Wut.
Ilana: Ich habe diese Wut nie empfinden können, für mich war es häufig einfach nur beängstigend, und ich war traurig, wenn ich Antisemitismus erlebt habe. Dabei hätte ich ja auch einmal sagen können: »Du Scheiß-Nazi!« Aber ich bin anders erzogen worden. Meine Eltern wollten bloß nicht auffallen und Streitigkeiten aus dem Weg gehen. Ich glaube, hinter ihrer Anpassung steckte viel Angst, die mir im Nachhinein erst bewusst wurde.
Joëlle: Meine Mutter ist in einer Gesellschaft der Täter aufgewachsen: Deine Nachbarin, der Lehrer oder die Bäckerin hätten Naziverbrecher sein können. Bei Lea und mir war das anders. Ich gehe mit einem fetten Magen David und einem »Fck Hamas«-Sticker auf die Straße. Ich trage meine Wut auch stellvertretend für meine Großeltern nach außen, die das nicht konnten. Ich glaube, das war echt eine Erkenntnis für mich in Warschau, dass wir da viel freier sind als die Generation meiner Mama.
Ilana, ein Jahr nach der Reise stand die kaum thematisierte Geschichte Ihres Vaters plötzlich auf Platz eins der deutschen Podcast-Charts.
Ilana: Das Interesse war riesig. Bei mir haben sich alte Mitschülerinnen und Studienkollegen gemeldet, die jetzt anfangen, in ihrer eigenen Familienbiografie zu graben. Mein jüdisches Umfeld hat viel verhaltener reagiert. Jemand sagte mir: »Ach, ich habe so viel mit meinem eigenen Trauma zu tun, ich muss mir das jetzt nicht auch noch reinziehen.« Meine Theorie dazu ist, dass es für viele einfach zu schmerzhaft ist, sich der eigenen Geschichte zu stellen. Auch die Auseinandersetzung zwischen der deutschen Täter- und der jüdischen Opferseite ist nicht einfach. Aber dieser Dialog ist wichtig.
Was hat diese Auseinandersetzung mit Ihnen persönlich gemacht?
Lea: Es hat in mir etwas wieder hervorgeholt, was ich sehr viele Jahre von mir weggeschoben habe. Ich weiß jetzt, dass dieser Teil unserer Familiengeschichte immer wieder auftauchen wird und einfach Teil meiner Identität ist. Ich habe auch mit meinem Partner mehr als zuvor darüber gesprochen. Seine Eltern sind Israelis und mit dem Selbstverständnis aufgewachsen, dass wir Juden uns heute mit dieser Schwere nicht mehr so sehr beschäftigen müssen. Aber in unserer Familie, hier in Deutschland, ist es anders als in Israel. Ich bin heute auch sensibler für den wiederkehrenden Antisemitismus. Und ich bin besorgt über den Antizionismus, den man überall spürt.
Ilana: Als wir das Projekt angefangen haben, konnten wir den 7. Oktober 2023 nicht erahnen. Dieses schreckliche Ereignis hat uns wachgerüttelt und alte, vertraute Ängste verstärkt, insbesondere nach dieser aufwühlenden Reise in die traumatische Vergangenheit. Aber ich muss wirklich betonen, dass ich diese Recherche, so emotional sie war, als etwas ganz Positives empfinde. Ich habe vor unserer Reise ein Selbstporträt gemalt, auf dem mein Kopf in einem Schleier des Nichtwissens verborgen ist. Ich habe darin meine Traurigkeit verarbeitet, nie richtig nachgefragt zu haben. Und nach der Reise habe ich das gleiche Bild mit meinem Gesicht gemalt, mit einem erleichterten, klaren Blick. Für mich war es eine absolute Befreiung zu erfahren, was mein Vater erlebt und durchgemacht hat.
Wenn Sie mit Ihrem Vater, Ihrem Großvater heute nochmal sprechen könnten, was würden Sie ihn fragen?
Ilana: Warum er uns das alles nie erzählt hat. Ich kann darüber nur mutmaßen, aber wirklich wissen tue ich es nicht. Und es gibt viele Details in seiner Biografie, die bis heute im Dunkeln liegen. Die werde ich nie erfahren. Und die Traurigkeit darüber bleibt.
Lea: Ich glaube, ich hätte ihn gern gefragt, woher er diese Überlebenskraft hatte. Woher hat er tagtäglich diese Stärke genommen weiterzumachen? Was hat er da gedacht in diesem Kellerloch, in dem er sich verstecken musste?
Joëlle: Ich würde mich auch ganz gern ein bisschen bei ihm entschuldigen, dass wir in seine Vergangenheit eingedrungen sind, die er vergessen wollte, die er von seiner Familie fernzuhalten versuchte. Ich würde ihm gern erklären, wie wichtig diese Reise für uns persönlich, aber auch für viele andere war. Trotzdem tut es mir leid, dass wir ihn nie um Erlaubnis fragen konnten. Dass er nicht für sich selbst sprechen konnte.
Mit Familie Lewitan sprach Mascha Malburg.