You Can Leave Your Hat On» ist ein Signatursong von Joe Cocker. Er untermalt in der Literaturverfilmung 9½ Wochen die Strip-Szene einer New Yorker Galeristin. Wenn die Schweizer Kunsthändlerin Ingeborg Henze-Ketterer an ihrem Schreibtisch in Wichtrach bei Bern Platz nimmt, blickt sie auf einen weiblichen Akt mit schwarzem Hut. Ernst Ludwig Kirchner porträtierte seine Geliebte Dodo um 1911 in diesem Look.
Von dem kleinformatigen Holzschnitt, existieren zwölf Exemplare. Eines befindet sich im Nachlass von Cornelius Gurlitt, den das Kunstmuseum Bern geerbt hat. Wann und ob jedoch die Öffentlichkeit dieses und die anderen rund 1500 Werke aus der berühmt-berüchtigten Sammlung wird sehen können, ist ungewiss. Denn ein in München anhängiges Erbscheinverfahren verzögert die Einfuhr der Gurlitt-Werke in die Schweiz erheblich, wenn es sie nicht gar am Ende verhindern könnte. Cornelius Gurlitts Cousine Uta Werner fechtet das Testament an. Vielleicht bekommt Bern die Sammlung nie.
taskforce Doch nicht nur die Cousine bereitet Probleme. Wie viel Raubkunst steckt in der Sammlung Gurlitt? Dank eines von der Mäzenin Ursula Streit zugesagten siebenstelligen Betrags wurde in Bern die «Forschungsstelle Gurlitt» geschaffen. Ihre Spende begründet die gebürtige Deutsche Streit damit, das in der Nazizeit «in ihrem Familien- und Freundeskreis getane Unrecht» nicht zu vergessen, wie ihr Anwalt Peter Bratschi formuliert.
Mithilfe der Forschungsstelle will Museumschef Matthias Frehner «ein heißes Materialdepot» heben. Es werde die Wahrnehmung der Kunsthandels- und Raubkunstgeschichte verändern, sagt er. Cornelius Gurlitts Vater Hildebrand Gurlitt, der die Sammlung angelegt hatte, habe «mit verschiedenen Strategien» gearbeitet. Frehner: «Man muss das knacken.»
Unter der Leitung des emeritierten Schweizer Kunsthistorikers Oskar Bätschmann sollen drei Wissenschaftler die Sammlung durchleuchten. «Ich will die Besten», sagt Museumschef Matthias Frehner. Bätschmann, Spezialist für Kunst des 19. Jahrhunderts und die Moderne, lehrte seine Studenten an verschiedenen Unis, wie man ein Bild von allen Seiten anpackt, und denkt auch über das kunstgeschichtliche Fach hinaus.
Doch es gibt Kritik an dieser Personalie. Der Wahl-Berner Bätschmann ist dem Kunstmuseum in diverser Hinsicht eng verbunden: Wasser auf die Mühlen derjenigen, die das avisierte Forschungsprojekt als möglicherweise nicht hinreichend objektiv kritisieren. Zu ihnen scheint inzwischen auch Ursula Streit zu zählen.
Sie will ihr zugesagtes Geld nicht freigeben, solange sie «zahlreiche offene Punkte» erkennt. Streit hat Klärungsbedarf bezüglich der Anwendung der Washingtoner Prinzipien über die Rückgabe von Raubkunst. Sie fordert darüber hinaus eine unabhängige Forschungsstelle, während das Museum diese seinem Stiftungsrat unterstellt. «Das Kunstmuseum ist Partei», sagt Rechtsanwalt Bratschi, der Eigeninteressen wittert. Es herrsche, so die Berner Zeitung, «dicke Luft».
provenienz Unklar ist auch der Umgang mit dem Raubkunst-Komplex. Vergangene Woche erklärte das Berner Museum, offenbar auf Mediendruck, man habe am 24. November 2014 «sämtliche Rechte an Bildern, die unter Raubkunstverdacht stehen, aufgegeben». Eine bemerkenswerte Formulierung. Von Grafik ist dort nicht die Rede, obwohl die Gurlitt-Sammlung zum großen Teil Grafik umfasst. De facto bestätigt das Haus damit nicht mehr als den Status quo. Ein Schleiertanz, statt die Hüllen fallen zu lassen und für Transparenz zu sorgen.
Doch was ist mit denjenigen Werken aus jüdischem Besitz, deren Provenienz noch zu klären ist – könnte Bern Kunst behalten, die Berlin restituieren würde? Schließlich betrachtet die Schweiz das Thema Restitution anders als Deutschland. Wie sehr jüdische Kunstbesitzer zum Kunstverkauf genötigt gewesen sein mögen und zu welchen Konditionen sie sich von ihrem Besitz trennen mussten, interessiert die Eidgenossen nicht so sehr.
1938 im Übrigen wenig erbaut über den Zustrom jüdischer Flüchtlinge aus dem Reich, die prompt einen J-Stempel in den Pass bekamen, betrachten sie von Juden zu Spottpreisen veräußerte Kunstwerke nicht zwingend als Restitutionsgut. Sogenanntes Fluchtgut aber wird in der Schweiz nicht zurückgegeben. Hat Cornelius Gurlitt Bern wegen des eigenwilligen eidgenössischen Restitutionsmodus bedacht? Immerhin: Beim Gurlitt-Nachlass soll in Streitfällen Deutschland das letzte Wort haben.
berechtigte In den Restitutionsfällen Matisse, Liebermann und Spitzweg fehlen allerdings bislang Berechtigtennachweise, sodass die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und das Kunstmuseum Bern auf der Stelle treten. Der Rechtsvertreter der Erben des Pariser Kunsthändlers Paul Rosenberg hat am 14. Februar zugesagt, fehlende Nachweise nachzureichen. Die Restitutionsvereinbarung muss inzwischen aber auch mit dem in München bestellten Nachlasspfleger abgestimmt werden. Das geschieht derzeit beim Matisse- und beim Liebermann-Gemälde. David Toren, bald 90 Jahre alt, der Anspruch auf Liebermanns «Zwei Reiter am Strand» erhebt, werde vermutlich nicht mehr lange leben, fürchtet Frehner.
Der Museumschef hatte für dieses Jahr den ersten Teil einer Gurlitt-Ausstellung geplant, die 2016 fortgesetzt werden sollte. Diese Pläne sind nun Makulatur. Der Frust in Bern ist groß. «Alle nicht zwingend notwendigen Arbeiten» wurden eingestellt. Kirchners «Melancholisches Mädchen» dürfte glatt noch trauriger schauen.
Die Namen Kirchner – 22 seiner Werke zählen zum Münchner Kunstfund – und Gurlitt sind auf besondere Weise verbunden. Der Aschaffenburger Künstler studierte Architektur bei Gurlitts Großvater (1850–1938), der ebenfalls den Namen Cornelius trug und an der Technischen Hochschule Dresden eine Professur für Geschichte der Baukunst und Stillehre innehatte. Die Galerie Henze-Ketterer bei Bern betreut Kirchners Nachlass, leiht dem Kunstmuseum Gemälde und zeigt gegenwärtig in einer Ausstellung Holzschnitt-Bildnisse von Kirchners Ärzten.
Apropos Ärzte: Über Cornelius Gurlitts Testierfähigkeit befanden schon drei Nervenärzte. Jetzt beurteilt im Auftrag seiner betagten Verwandten womöglich der vierte Gutachter seine Verfassung: Trieb ihn Weisheit oder Wahn? Bern hat sich alles einfacher vorgestellt.