Es fing so vielversprechend an. Nach dem tiefsitzenden Schock über die Empathie-befreite Berlinale 2024 mit ihren anti-israelischen Aktionen war das Interview der Jüdischen Allgemeinen mit der neuen Berlinale-Chefin Tricia Tuttle ein Hoffnungsstrahl. Voller Verständnis, Wissen und Mitgefühl hatte sie nicht nur die Versäumnisse des vergangenen Jahres verurteilt, sie versprach sogar eine Entschuldigung dafür, dass ihre Vorgänger mit keinem Wort an den am 7. Oktober nach Gaza verschleppten David Cunio erinnert haben, der als Schauspieler 2013 selbst auf der Berlinale gewesen war, und der seit 497 Tagen Geisel der Hamas ist.
Auch im diesjährigen Filmprogramm schlägt sich der Anspruch nieder, beiden Seiten des Schmerzes gerecht zu werden. Und dann der rote Teppich der feierlichen Eröffnungsgala am Donnerstagabend. Zehn Filmschaffende, zusammengebracht von der Regisseurin Julia von Heinz (»Ich bin dann mal weg«, »Treasure«), traten vor die Fotografen und hielten Fotos von David Cunio vor die Objektive: Marie-Lou Sellem, Alice Brauner, Düzen Tekkal, Christian Berkel, Andrea Sawatzki, Ulrich Matthes, Martina Gedeck, Markus Imboden und Tricia Tuttle. Sie sei so froh, dass zehn Kollegen dabei waren, sagte von Heinz. Eigentlich sogar elf, aber Iris Berben wurde aufgehalten. Und Tuttle habe sich bedankt, »dass wir hier stehen«.
Dann ging es in den Saal des strahlenden Berlinale-Palasts. Bei der Danksagung an alle Unterstützer des Filmfestivals war auf der Leinwand das Wort »Danke« noch in Iwrit mit dabei und beim 75-Jahre-Filmrückblick auch ein israelischer Regisseur. Doch als die großartige Schauspielerin Tilda Swinton sich für ihren Goldenen Ehrenbären bedankte, war Schluss mit dem guten Gefühl.
Bei »Israel« brach der Applaus abrupt zusammen
Natürlich pries sie in perfekt polierten Worten die Macht des Kinos und fand wundervolle Bilder für das, was sie weltberühmt gemacht hat. Aber dann rutschte die Leinwandikone ab in die Untiefen der politischen Rede, und plötzlich watschelte der sonst so elegant auf dem Wasser gleitende Schwan auf unwegsamem Gelände. Swinton verurteilte »Besatzung« und »Kolonisation«, wetterte gegen den »vom Staat verübten und international ermöglichten Massenmord« – »von genau den Gremien verurteilt, die von den Menschen eigens zur Überwachung der Geschehnisse auf dieser Erde ins Leben gerufen wurden, die für die menschliche Gemeinschaft inakzeptabel sind.« Das »Unmenschliche wird unter unserer Aufsicht verübt. Ich bin hier, um es zu benennen, ohne Zögern oder Zweifel. Und meine unerschütterliche Solidarität all jenen zu geben, die die inakzeptable Selbstgefälligkeit unserer giersüchtigen Regierungen erkennen, die sich bei Planetenzerstörern und Kriegsverbrechern lieb Kind machen. Ganz gleich, woher sie kommen.« Nein, sie benannte Israel nicht, doch natürlich wusste jeder, wer gemeint war, und in den Applaus mischte sich begeistertes Gejohle.
Und Tuttle, die immer wieder betont, wie wichtig es sei, dass wir einander zuhören und auch komplexe und herausfordernde Diskussionen aushalten müssen, durfte am eigenen Leib erfahren, wie groß der Hass auf Israel in der Filmbranche sein muss. Vor Beginn des Eröffnungsfilms (»Das Licht« von Tom Tykwer) stellte sie sich vor den riesigen roten Vorhang, um an die zu erinnern, die nicht hier sein könnten, aber »in unseren Herzen« seien. Bei Iran und Sudan wurde geklatscht, bei Gaza und Westjordanland brach Freude aus, bei »Israel« brach der Applaus abrupt zusammen. Da fiel sogar dem berühmten israelischen Filmkritiker Amir Kaminer nichts mehr zu ein, der eigentlich immer ein wunderbar ätzendes Bonmot parat hat.
Bewunderin des BDS
Bei der Ehrenbär-Pressekonferenz am Freitagmorgen ist der Schwan dann ausgerutscht und liegengeblieben: »Ich bin eine große Bewunderin des BDS und habe großen Respekt«, sagte Tilda Swinton. Zwar habe sie vor einigen Wochen in ihrem Instagram-Kanal einen BDS-Aufruf zum Boykott der Berlinale geteilt, aber sie »habe beschlossen, dass es für mich wichtiger war, zu kommen«, so die 64-Jährige. »Dank des Festivals wurde mir eine Plattform geboten, wie ich sie heute habe, und ich habe in einem persönlichen Moment entschieden, dass dies für unser aller Anliegen möglicherweise nützlicher ist als mein Nichterscheinen.«
Und als wäre das alles nicht genug, hat sich die Berlinale auch noch von der Antisemitismus-Resolution des Deutschen Bundestages distanziert. Diese sei »kein rechtsverbindliches Dokument« und habe »daher keinen Einfluss auf die Durchführung der Berlinale«, heißt es auf der Festival-Website. Dass am Ende steht, man toleriere keinen Antisemitismus, klingt gut, lässt aber völlig offen, wer stattdessen definiert, was Antisemitismus ist.
Die neue Berlinale hat neun Tage Zeit zu zeigen, wie neu sie wirklich ist.