In den Wochen vor Ostern werden sie wieder aufgeführt: die ebenso ergreifende wie erschütternde Matthäuspassion und die Johannespassion von Johann Sebastian Bach (1685–1750). Wie kein Zweiter verwandelte der große Barockkomponist lutherische Theologie in Töne. Auch die polemische, mitunter hasserfüllte Sicht Martin Luthers auf die Juden, die Jesus ans Kreuz bringen, spiegelt sich darin wider.
War auch Bach ein Antijudaist? Klare Belege für eine antijüdische Haltung der Person Bach finden sich nicht. Aber im Jahr des 500. Jahrestages der Reformation wird neu diskutiert, wie seine Passionen heute gespielt werden dürfen – Werke, die die Nazis zu »Entjudungs«-Hymnen erklärt hatten.
Kreuzigung Wenn es um Antijudaismus in Bachs Musik geht, werden vor allem die »Wutchöre« in den Passionsmusiken angeführt. Dissonant, chromatisch schleudert der Juden-Chor dem Pilatus in der Johannespassion von 1724 das »Kreuzige ihn« entgegen, fordert die Freilassung von Barrabas statt Jesus und steigert sich noch: »Weg, weg mit dem, weg, weg!«. Unzweifelhaft in dieser hoch emotionsgeladenen Szene: Die Juden sind in der Johannespassion schuld am Tod Jesu am Kreuz.
In Bachs überwältigender Musik transportiert sich nach Ansicht des Leiters des Eisenacher Bachhauses, Jörg Hansen, die älteste christliche antijüdische Polemik. Hansen hat 2016 in Eisenach die Ausstellung Luther, Bach und die Juden organisiert. Bach behalte die Evangeliumstexte bei, doch gerade diese seien problematisch, sagt er. Die gegen Juden gerichteten Texte des Neuen Testaments seien bei Matthäus Ausdruck der Konkurrenz der jungen christlichen gegen die alte jüdische Religion, bei Johannes schlügen sie in »Verteufelung« um.
Während sich die Kirchen heute vom Antijudaismus Luthers deutlich distanzieren, verleihe Bachs Musik dem »unaufgeklärten Luthertum des Barock weiter eine Stimme«, resümiert Hansen. In seiner Hass-Schrift Wider die Jüden und ihre Lügen (1543) hatte Luther deren Vertreibung und die Zerstörung ihrer Synagogen gefordert.
unglück Doch nicht alle Musiktheoretiker sehen Bach so kritisch wie der Museumschef. Der kanadische Musikwissenschaftler Michael Marissen, Autor des Buches Bach & God, vertritt die Ansicht, dass sich in der Johannespassion der Fokus vom Unglauben der Juden auf die Sünden der Christen verschoben habe. Zudem sei in den Kommentar-Texten des Dichters Picander, der das Libretto für die 1727 oder 1729 uraufgeführte Matthäuspassion schrieb, die Feindschaft gegenüber Juden »weder Thema noch Zweck« gewesen.
Umstrittenste Passage dieses Oratoriums ist die sogenannte Selbstverfluchung der Juden. In einem oft als dämonisch-wild beschriebenen Chorsatz singen sie »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder«. In Luthers Deutung ist es die »Selbstverfluchung«, die den Juden ewiges Unglück und Verdammnis bringt. Unzählige Judenpogrome im christlichen Europa wurden mit der Auslegung dieser Bibelszene gerechtfertigt. Marissen zufolge stellt Bach dem jedoch in Arien und Chorälen auch ein Erlösungsgeschehen gegenüber, das letzten Endes für alle gilt – auch für Juden, sofern sie an Christus glauben.
Von der dramatischen musikalischen Aufladung der jüdischen Volksmenge in den Passionen abgesehen, gibt es für eine antijudaistische Haltung Bachs keine unmittelbare Quelle. In seiner Bibliothek finden sich judenfeindliche Texte wie die Schmähschrift des Johannes Müller (1644), aber auch andere theologische Positionen. Bach verstärke den Antijudaismus der Bibeltexte in den »subjektiven« Liedern nicht, urteilt der Freiburger Musikprofessor Meinrad Walter. Verstärkt werde nur die Dramatik in der »komponierten Aggression« der Juden-Chöre.
Renaissance Felix Mendelssohn Bartholdy, der aus einer berühmten und Bach-begeisterten jüdischen Familie stammt, hatte ganz offensichtlich kein Problem mit den die Volksmenge darstellenden wütenden Turba-Chören. Er führte 1829 die Matthäus-Passion mit der Berliner Singakademie auf, riss das Werk, das seit Bachs Tod nicht mehr gespielt worden war, aus der Vergessenheit und läutete damit die große Bach-Renaissance ein, die bis heute andauert.
Schon sein Großvater Moses Mendelssohn hatte in Bach ein Ideal gesehen, das er in seiner Musiktheorie zum Maßstab legte. Felix’ Großmutter Bella Salomon schenkte dem 14-Jährigen eine Abschrift der Matthäus-Passion. »Eifrig und stark wie der Herr Gott im Alten Testament«, nannte Mendelssohn später die Musik Bachs. In seinen Aufführungen der Bach-Passionen strich er allerlei, aber nicht die Turba-Chöre.
Zur Aufführungspraxis der Passions-Oratorien gehören heute oft Vorträge, Infoblätter oder gar musikalische Umarbeitungen und Ergänzungen. Auch wenn man Bach persönlich keinen Antisemitismus nachweisen könne, dürften 300 Jahre Wirkungsgeschichte nicht vergessen werden, mahnt die hessen-nassauische Landeskirchenmusikdirektorin Christa Kirschbaum in einem Interview mit der evangelischen Monatszeitschrift »zeitzeichen« (März). Auf die Johannes- und Matthäuspassionen, die in den nächsten Wochen aufgeführt werden, darf man gespannt sein.