Das Magazin »Spiegel Geschichte« meinte es wahrscheinlich gut: ein Heft über die Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland. Das Mittelalter wird thematisiert, die Haskala, der Erste Weltkrieg und natürlich die Zeit des Holocaust. Auch jüdische Wissenschaftler und Autoren, Politiker und Maler werden ausführlich porträtiert.
»Juden prägten die deutsche Geschichte von Beginn an. Bereits im Jahr 321 lebten Juden in Köln. Kaufleute brachten den Handel in den mittelalterlichen Städten in Schwung, Bankiers finanzierten den Aufstieg der frühneuzeitlichen Staaten, Philosophen und Salondamen gaben Impulse für die Aufklärung, Wissenschaftlerinnen und Forscher entdeckten Bahnbrechendes. Doch die deutsch-jüdische Geschichte ist auch durchsetzt von Hass und Gewalt«, heißt es im Editorial des neuen Magazins.
Die Idee der Blattmacher war vermutlich, einen ebenso glaubwürdigen wie authentischen Überblick über die Geschichte des jüdischen Lebens in Deutschland zu geben. Doch nun steht das Magazin wegen seines Titelfotos in der Kritik – und zwar massiv. Auf dem Cover in Schwarz-Weiß sind zwei »Ostjuden« abgebildet, aufgenommen vermutlich im Berliner Scheunenviertel der 20er-Jahre. Der Vorwurf: »Spiegel Geschichte« verbreite mit seinem Cover Stereotype.
KLISCHEE »Mit dem Titelbild bedient der ›Spiegel‹ leider Klischeevorstellungen von Juden«, kritisierte zum Beispiel der Zentralrat der Juden am Freitag. »Daher stellt sich die Frage, was der ›Spiegel‹ mit dieser Foto-Auswahl und der Betitelung beabsichtigt. Juden als etwas Fremdes oder Exotisches darzustellen, befördert antisemitische Vorurteile.«
Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank Frankfurt, erklärte: »Wir sind keine ›unbekannte Welt nebenan‹, sondern Teil der Gesellschaft. Unter 1000 Jahren jüdischer Geschichte hätten Sie Mendelssohn, Bertha Pappenheim, Buber oder Rosa Luxemburg abbilden können. Aber Sie haben sich für das Bild von Ostjuden aus dem Armenviertel in Berlin entschieden, bekannt aus der NS-Propaganda. Reiner Zufall?«
Kritik übt auch der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount A. Königsberg. »Die Darstellung von Juden durch den ›Spiegel‹ bestärkt vorhandene Ressentiments«, so Königsberg.
FREUNDE Amelie Fried, Schriftstellerin und Journalistin, stellt sich angesichts des Covers die Frage, in welcher Realität »Spiegel«-Redakteure eigentlich leben. »Nach einem zumindest fragwürdigen Artikel über die Lobbyarbeit zweier deutsch-jüdischer Organisationen neulich nun das Sonderheft zu jüdischem Leben heute – illustriert mit dem Bild zweier Ostjuden aus den 1920er-Jahren, das die jüdischen Klischees bedient, die schon dem ›Stürmer‹ zur Vorlage dienten. Wenn das ein Beitrag gegen den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland sein soll, dann vielen Dank. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.«
Der Historiker und Politikwissenschaftler Oren Osterer übte ebenfalls deutliche Kritik an den Journalisten in Hamburg. »So sehen sie also aus – die Juden. So sah der ›Stürmer‹ sie übrigens auch. Nur noch ein bisschen fratziger. Es leben schätzungsweise 200.000 Juden in Deutschland«, sagte Osterer der Jüdischen Allgemeinen. »Ich würde mit großer Sicherheit sagen, dass heute in Deutschland weniger Juden leben, die so aussehen wie auf dem Titelbild, als sich deutsche Juden heute in Budapest als Teil der Delegation von Makkabi Deutschland anlässlich der European Maccabi Games Budapest 2019 befinden. Aber nein, der ›Spiegel‹ packt antijüdische Klischees am laufenden Bande aus.«
FACETTEN Der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte sagte zum Cover des Magazins: »Nachlässig, fahrlässig oder antisemitisch? Ziel von ›Spiegel Geschichte‹ soll es wohl sein, die vielen Facetten des jüdischen Lebens vom 11. bis ins 20. Jahrhundert darzustellen. Warum entscheiden sie sich dann für ein Bild, das aus der NS-Propaganda bekannt ist? Warum zeigen sie nicht die vielen Facetten jüdischen Lebens?«
Der »Spiegel« reagierte wie folgt auf die Kritik: »Wir zeigen auf dem Titelbild einen Aspekt aus der reichen Vielfalt der deutsch-jüdischen Geschichte, die wir in diesem Historienheft in vielen weiteren Facetten abbilden. Wir wollten damit kein antisemitisches Klischee bedienen, sollte der Eindruck entstanden sein, tut uns das leid. Das war nicht unsere Absicht.«
Das Hamburger Nachrichtenmagazin stand erst kürzlich massiv in der Kritik, als es – ohne Belege oder gar Beweise anzuführen – zwei jüdischen Vereinen vorwarf, die deutsche Nahostpolitik zu steuern. Der Zentralrat der Juden, mehrere Antisemitismusbeauftragte und etliche Bundestagsabgeordnete äußerten sich daraufhin schockiert und fassungslos. Der Spiegel indes konnte in seinem Bericht kein Fehlverhalten erkennen und wies alle Vorwürfe zurück.
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