Er stammt aus Osteuropa, trägt schwarze Kleidung, scheut das christliche Symbol des Kreuzes und praktiziert heimlich blutrünstige Rituale. Die Rede ist von Dracula. 1897 veröffentlichte der irische Schriftsteller Bram Stoker seinen gleichnamigen Horrorroman und schuf damit einen bis heute populären Mythos. Unzählige Vampirromane sind seitdem geschrieben worden, zuletzt Stephenie Meyers erfolgreiche Bis(s)-Bestsellerreihe.
Auch Dutzende Filme haben das Blutsaugermotiv aufgegriffen, angefangen bei Friedrich Wilhelm Murnaus Klassiker Nosferatu, Symphonie des Grauens aus dem Jahr 1922 über Francis Ford Coppolas Bram Stoker’s Dracula bis zu der beliebten Teenie-Fernsehserie Buffy – Im Bann der Dämonen.
Das historische Vorbild für den Original-Dracula von 1897 soll Vlad der Pfähler (1431-1476) gewesen sein, ein rumänischer Adeliger, der sich als Herrscher der Walachei durch besondere Grausamkeit auszeichnete. So ließ er seine Feinde bei lebendigem Leib auf Pfähle spießen, wo sie langsam und qualvoll starben – daher sein Beiname.
ostjuden Aber stand tatsächlich der transsylvanische Despot Pate für Dracula? Oder war eine ganz andere Art Osteuropäer Vorbild? Das glaubt die amerikanische Wissenschaftlerin Sara Libby Robinson von der renommierten Brandeis University. In ihrer Studie Blood Will Tell: Vampires as Political Metaphors Before World War I stellt sie die These auf, dass Stoker, als er seine Romanfigur schuf, Juden im Visier hatte.
Draculas Gesichtszüge zum Beispiel, schreibt Robinson, »sind stereotypisch jüdisch ... seine Nase ist krumm, er hat buschige Augenbrauen, spitze Ohren und krallenartige, häßliche Finger«. Gängigen antisemitischen Phobien im Zeitalter der Assimilation entspräche auch, dass »Dracula sich stark bemüht ... sich dem Rest der Bevölkerung anzupassen«. Seine Andersartigkeit lebt er heimlich nachts aus.
Für Robinson ist es kein Zufall, dass Stokers Dracula zeitgleich mit der großen ostjüdischen Einwanderungswelle nach England Ende des 19. Jahrhunderts herauskam. Der massenhafte Zuzug dunkelhaariger, ungetaufter und mit seltsamem Akzent sprechender Fremder weckte xenophobe Affekte in weiten Teilen der Bevölkerung.
Der christlich-angelsächsische Charakter der Nation sei gefährdet, war zu hören. Dass Dracula sein Blut mit dem seiner Opfer vermischt und sie dadurch selbst zu Vampiren werden, interpretiert Robinson als Metapher für die als Schreckgespenst an die Wand gemalte »Fremdverrassung« Englands.
ritualmord Womit wir bei Draculas wesentlichem Charakterzug sind, der für die Forscherin auch den Kern des antijüdischen Motivs bei Stoker ausmacht: die Blutsaugerei. Hier sieht Robinson zwei Topoi vereint. Zum einen die klassische Ritualmordlegende, nach der Juden Christenkinder schlachten, um aus deren Blut zu Pessach Mazzen zu backen.
Diese Vorstellung stammt aus dem Mittelalter, war aber zum Zeitpunkt, als der Roman entstand, immer noch weit verbreitet. So kam es etwa 1900 im ostpreußischen Ort Konitz zu einem Pogrom, nachdem die zerstückelte Leiche eines Jungen aufgefunden worden war. Der jüdische Schächter des Ortes wurde des Ritualmords beschuldigt.
Moderner war ein zweites Blutsaugermotiv, das nach Robinson in Stokers Draculalegende einfloss: das Bild vom jüdischen Kapitalisten. Eine bis heute wirkungsmächtige Metapher: Im Internet taucht in der kruden antikapitalistischen Agitation sowohl von rechts wie links der blutsaugende, hakennasige Ausbeuter immer wieder auf.
Auch bei Bram Stoker ist Dracula nicht nur blut-, sondern auch geldgierig. Robinson zitiert in einer Fußnote eine Schlüsselszene gegen Ende des Romans. Jonathan Harker, der positive Held des Buchs, hat Dracula kurz vor Sonnenuntergang gestellt. Er attackiert den Vampir mit einem Messer: »Die Spitze schnitt durch den Stoff von Draculas Mantel. Ein Bündel Banknoten und Goldmünzen fiel heraus. ... Im nächsten Moment hechtete Dracula unter Harkers Arm hinweg, raffte eine Handvoll des Geldes vom Boden und rannte durch den Raum.«
Sara Libby Robinson: »Blood Will Tell: Vampires as Political Metaphors Before World War I«, Academic Studies Press, Brighton/Massachussets, 2011, 250 S., 59 US-$