Endlich – da sind sie wieder! Neue Filmplakate hängen jetzt da, wo die alten trotzig im Schaukasten meines kleinen Kinos um die Ecke monatelang stumm vor sich hinwelkten und verblassten. Wie die Litfaßsäulen in meiner Stadt. Bilder, die mich an Tschernobyl erinnerten. Das Programm war erstarrt, wie das Kino selbst, von dem nur noch der tröstende Name »Mal Seh’n« geblieben war, der aber in der Pandemie wirkte wie blanker Hohn. Ich habe die Straßenseite gewechselt, wenn ich vorbeikam.
Und jetzt? Der Schaukasten hat wie über Nacht wieder Farbe bekommen, und das Programm lockt, als wäre nichts gewesen. Das letzte Mal ist gefühlt ein Jahrzehnt her, liegt aber gerade mal ein anstrengendes Jahr zurück, als ich für diese Zeitung von der 70. Berlinale berichtete. Mein letzter Film war der überragende italienische Beitrag Favolacce (»Schlechte Geschichten«) der Gebrüder Damiano und Fabio D’Innocenzo, der in Berlin seine Uraufführung erlebte.
lebenszeichen Das verstörende Drama aus einer römischen Reihenhaussiedlung war für mich eine Entdeckung. Endlich ein Lebenszeichen des großen italienischen Kinos. Ich war umringt von begeisterten italienischen Kollegen, es war lebhaft, laut, erwartungsvoll. Der Saal brodelte. Aber genau das war das Problem, denn aus dem realen Italien erreichten uns erste beunruhigende Bilder. Vorboten der heranrasenden Katastrophe. Endlose Seiten mit Todesanzeigen in einer Tageszeitung aus Bergamo. Menschen in Astronautenanzügen. Die ersten Corona-Opfer, auf dem Bauch liegend mit Schnüren und Schläuchen hilflos am Leben erhalten. Plötzlich wurden die Sitze neben und hinter mir zur Gefahrenzone um Leib und Leben.
Nichts ist passiert. Auch der ständig hüstelnde Mann neben mir bei der langen Zugfahrt zurück aus Berlin hat mich nicht angesteckt. Glück gehabt! Und jetzt darf ich sogar wieder ins Kino, freue mich auf den ersten Vorhang, mit feierlichem Gong vielleicht. Doch bei aller Solidarität mit dem Kino, dem so oft totgesagten Kulturgut für das bewegte Bild, gebe ich zu, dass ich noch etwas Zeit brauche bis zum sorglosen Kinobesuch. Streamingdienste haben mir die Pandemie verkürzt, ich habe »gestieselt«, als gäbe es kein Morgen mehr, Fauda, alle Folgen. Schnell hat der große Bruder Algorithmus alles rausgefischt, was zu mir passt. Viel Israel, viel Judentum, viel Drama.
Filme brauchen die Leinwand, nicht den Monitor zu Hause und die Fernbedienung.
Und auch das gestehe ich, das Popcornkauen um mich herum, die klebrigen Armlehnen, die ausgesessenen Sitze, der anschließende Müll zwischen den Sitzreihen – nichts davon habe ich vermisst. Das Gefühl aber, gemeinsam einzutauchen in eine andere Welt, von Bildern eingelullt zu werden und der atemlosen Spannung, dem verschämten Schluchzen, dem befreienden Auflachen – das hat mir verdammt gefehlt. Mich schmerzten die verzweifelt ein bisschen Optimismus verbreitenden Interviews von Kinobetreibern auf ihren leeren roten Sitzen.
publikum Sie haben mich daran erinnert, dass Filme die Leinwand brauchen, nicht den Monitor zu Hause und die Fernbedienung, dass sie fürs große Publikum gemacht sind und nicht nur für mich mit Chips auf dem Sofa. Einige wenige Kinos haben den Gau trotz staatlicher Hilfe nicht überlebt. Die Überlebenden tasten sich vorsichtig voran. Mit Maske und mit Abstand. Und sie hoffen auf gute Filme und das alte Publikum. Wir stehen bereit, und Open-Air erleichtert auch mir den Wiedereinstieg. Anfüttern, sozusagen.
Favolacce hat übrigens den Silbernen Bären für das beste Drehbuch gewonnen. Der Kinostart in Italien war für den 16. April 2020 vorgesehen, vier Wochen, nachdem in Bergamo Militärlastwagen ihre Särge auf dem städtischen Friedhof abgeladen hatten und die Stadt 4600 Tote zu beklagen hatte. Da war kein Nerv für Favolacce. Es wird einer der Filme sein, die im Stau stehen und auf den Vorhang warten. Spätestens da werde ich dabei sein, wenn Delta nicht dazwischen grätscht.
Der Autor ist Journalist und lebt in Frankfurt. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Israel ist an allem schuld«.