documenta

Vor die Wand gefahren

Zum Ende der Weltkunstausstellung gibt es erneut Streit. Dabei sorgen Künstler und Kuratoren vor allem durch ihre Wortwahl und Aktionen für Entsetzen

von Ralf Balke  15.09.2022 12:02 Uhr Aktualisiert

Plakatinstallation im Museum Fridericianum: Das »Künstlerische Team und die lumbung community« haben eine eindeutige politische Botschaft. Foto: Daniele Sabbatini

Zum Ende der Weltkunstausstellung gibt es erneut Streit. Dabei sorgen Künstler und Kuratoren vor allem durch ihre Wortwahl und Aktionen für Entsetzen

von Ralf Balke  15.09.2022 12:02 Uhr Aktualisiert

Kurz vor Schluss der Kasseler Weltkunstausstellung am 25. September ist der Streit um antisemitische Motive und Bildsprache auf der documenta fifteen erneut auf allen Ebenen entbrannt. Nachdem sich am Wochenende das Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der Weltkunstausstellung mit gleich zwei Pressemitteilungen an die Öffentlichkeit gewandt hatte, in denen man die Absetzung des als hochproblematisch bewerteten »Tokyo Reels Film Festival« empfahl, meldeten sich umgehend Künstler und das Kuratorenkollektiv ruangrupa mit einem offenen Brief zu Wort, der durch seine Diktion und Aussagen nicht nur beim Zentralrat der Juden in Deutschland für Entsetzen und Irritationen sorgte.

GESELLSCHAFTER Daraufhin schlossen sich am Dienstagmorgen die Gesellschafter der documenta gGmbH – das Land Hessen und die Stadt Kassel – überraschend dem Votum der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, wonach die terrorverherrlichenden Filme nicht mehr gezeigt werden sollten.

Das Land Hessen und die Stadt Kassel wollen den Propaganda-Film aus dem Programm nehmen.

Aber der Reihe nach. »Hochproblematisch an diesem Werk sind nicht nur die mit antisemitischen und antizionistischen Versatzstücken versehenen Filmdokumente, sondern die zwischen den Filmen eingefügten Kommentare der Künstler:innen, in denen sie den Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus des Quellmaterials durch ihre unkritische Diskussion legitimieren«, so lautet die Einschätzung der unter dem Namen »Tokyo Reels Film Festival« gezeigten Kompilation von propalästinensischen Propagandafilmen des Kollektivs »Subversive Film« durch das Expertengremium, die am Freitag veröffentlicht wurde. »Um nur ein Beispiel zu nennen: Israel wird ein ›faschistischer‹ Charakter vorgeworfen und unterstellt, einen ›Genozid‹ an den Palästinensern zu betreiben – es wird dadurch mit dem nationalsozialistischen Deutschland gleichgesetzt.«

»Die Inhalte und Art der Präsentation des ›Tokyo Reels Film Festival‹ sind derart verstörend und verheerend in ihrer Wirkung, weshalb wir dringenden Handlungsbedarf sahen und die Kuratoren dazu aufforderten, weitere Aufführungen zu stoppen, solange nicht mindestens umfangreiche Kontextualisierung des Gezeigten erfolgt«, skizziert die Frankfurter Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, Leiterin des Expertengremiums, die Gründe, warum man gerade jetzt Alarm schlägt. »Dabei verstehen wir uns nicht als Zensoren, sondern geben lediglich Empfehlungen, deren Umsetzung ist Sache der Gesellschafter.«

Die Verantwortlichen sahen das zuerst anders. »Der Empfehlung einer vorübergehenden Entnahme der Arbeit Tokyo Reels von Subversive Film aus der Ausstellung möchte ruangrupa, denen als Künstlerische Leitung der documenta fifteen die alleinige Entscheidung darüber zusteht, nicht nachkommen«, teilte die documenta der Jüdischen Allgemeinen auf Anfrage am Montag mit.

KINO Ob die Stellungnahme der Gesellschafter der documenta vom Dienstag, der sich ebenfalls Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) mit der Forderung nach einer Absetzung des Films anschloss, nun dazu führt, dass es doch zu einer Unterbindung der Aufführung der Filme kommt oder die Entscheidung darüber allein bei ruangrupa liegt, war bis Redaktionsschluss nicht in Erfahrung zu bringen. Eine weitere Anfrage blieb unbeantwortet. Im Programm wurden am Mittwochvormittag weiterhin zwei Termine genannt, an denen »Tokyo Reels Film Festival« im Kasseler Gloria-Kino gezeigt werden soll, und zwar der 14. sowie der 21. September.

Auf die Presseerklärungen des Expertengremiums reagierten Künstler, darunter die mehrfach auffällig gewordene Gruppe Taring Padi, sowie ruangrupa reichlich verschnupft. »Wir sind wütend, wir sind traurig, wir sind müde, wir stehen zusammen«, heißt es in einem Offenen Brief vom Samstag. »Mit diesem Bericht wird eine weitere Grenze überschritten, die wir kategorisch ablehnen: Diese Linie markiert eine rassistische Tendenz in einer schädlichen Zensurstruktur. Wir prangern den bösartigen Versuch an, die Präsentation der Tokyo Reels zu zensieren.«

Sie selbst betrachten sich ausschließlich als Opfer. »Seit Monaten sehen wir uns in den Medien, aber auch in der Öffentlichkeit und in unseren Räumen immer wieder Verleumdungen, Demütigungen, Vandalismus und Drohungen ausgesetzt.« Inhaltlich gehen sie nur auf einen Kritikpunkt des Expertengremiums ein, und zwar die beobachtete antisemitische Schlagseite bei der auffallend häufigen Thematisierung des Nahostkonfliktes auf der documenta.

APARTHEIDVORWÜRFE »Die Frage ist nicht das Existenzrecht Israels, sondern die Frage, wie es existiert«, so der Wortlaut. »Widerstand gegen den Staat Israel ist Widerstand gegen den Siedlerkolonialismus, der Apartheid, ethnische Säuberung und Besetzung als Formen der Unterdrückung einsetzt.«

Fassungslos nahm man auf jüdischer Seite das alles zur Kenntnis: »Ihr Offener Brief dämonisiert und delegitimiert Israel. Eine offene und ehrliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Israelhass wird weiterhin verweigert«, heißt es in einer Stellungnahme des Zentralrats der Juden in Deutschland. Damit bewiesen Kuratoren und Künstler erneut, »dass der Antisemitismus bei dieser documenta von Anfang an strukturell angelegt war«.

Die Künstler um ruangrupa sehen sich als Opfer und beklagen eine »rassistische Tendenz«.

Zentralratspräsident Josef Schuster unterstrich ferner: »Ich erwarte von den Verantwortlichen, dass sie Sorge dafür tragen, dass der hier zur Schau gestellte, staatlich alimentierte Antisemitismus unverzüglich, noch vor dem 25. September beendet wird.«

Wenn die documenta-Leitung jetzt nicht handele, zeige sich, »dass die Einrichtung des Expertengremiums nur ein Feigenblatt war, das nicht einmal diesen Namen verdient«, so Schuster.

Der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees schloss sich dem Protest an: »Die Reaktion der documenta-Verantwortlichen bezüglich der Aussagen und Forderungen des Expertengremiums zum Antisemitismus macht einmal mehr deutlich, dass diese documenta als documenta des Zynismus in die Geschichte eingehen wird«, sagte Christoph Heubner. »Über Wochen hinweg hat man bei der documenta fifteen allen antisemitischen Entgleisungen zum Trotz die Kassen klingeln lassen.«

JÜDISCHE GEMEINDE Auch die Jüdische Gemeinde Kassel und das Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben sind entsetzt. »Wir sind auch wütend, wir sind auch traurig, wir sind auch müde, wir stehen zusammen«, beginnt ihr Statement zu den aktuellen Vorgängen vom Dienstag. »Wir beschuldigen Euch, ruangrupa und das ›artistic team‹, Antisemitismus zuzulassen und nachhaltig zu befördern. Alles, was Ihr bisher zum Antisemitismus geäußert habt, war ein Lippenbekenntnis. Wir glauben Euch nicht mehr, wenn Ihr vom Zuhören und Lernen sprecht. Wir sind enttäuscht.«

Denn mitten in das Herz der documenta, dem Museum Fridericianum, hatten ruangrupa & Co. am Wochenende Plakate mit Aufschriften wie »BDS: Being in Documenta ist a Struggle« (»In der Documenta zu sein, ist ein Kampf«) oder »Free Palestine from German guilt« (»Befreit Palästina von deutscher Schuld«) aufgehängt. Diese seien »eine gemeinsame künstlerische Intervention von Mitgliedern des Künstlerischen Teams und der lumbung community«, heißt es dazu seitens der documenta auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen. Man wolle sie deshalb auch nicht wieder entfernen. Die Abkürzung BDS steht üblicherweise für die Bewegung »Boycott, Divestment and Sanctions«, die zum Boykott Israels auffordert und im Mai 2019 vom Bundestag als antisemitisch eingestuft wurde.

»Diese Zuspitzung des sogenannten transnationalen antikolonialen Kampfs auf den Nahostkonflikt und Israel ist problematisch«, lautet die Einschätzung von Deitelhoff in Bezug auf die jüngste Aktion im Fridericianum. Ruangrupa berufe sich immer auf die kuratorischen Freiheiten. Doch seien diese Plakate schwerlich als Teil der Ausstellung zu bewerten, sondern wirkten wie eine politische Intervention. »Die Grenzen zwischen Kunst und Politik werden nun endgültig verwischt, und die Verantwortlichen müssen genau hinsehen, was da gerade passiert.«

kulturrat Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, machte dem verantwortlichen Künstlerkollektiv ruangrupa ebenfalls schwere Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Antisemitismus-Skandal. »Das Künstlerkollektiv hat die documenta vor die Wand gefahren«, sagte Zimmermann am Mittwoch im Deutschlandfunk.

Für den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, lässt die Haltung der künstlerischen Leitung der documenta in dem Konflikt »keinerlei Entwicklung des Mindsets« erkennen. Vielmehr werde offenbar, dass die Kuratoren-Gruppe ruangrupa »bislang aus den nun inzwischen seit Monaten währenden Diskussionen und Debatten um Antisemitismus scheinbar nichts gelernt und wenig verstanden hat«, sagte Klein den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Hessens Antisemitismusbeauftragter Uwe Becker wirft den Kuratoren und der Geschäftsführung der Ausstellung vor, sich der Dimension ihres Fehlverhaltens nicht bewusst zu sein.

expertengremium «Das Expertengremium der documenta ist ganz unmissverständlich zu der sehr klaren Bewertung gekommen, dass die Filmreihe ›Tokyo Reels Film Festival‹ des japanisch-palästinensischen Kollektivs ›Subversive Film‹ mit den Kommentaren der Künstlerinnen und Künstler terrorismusverherrlichende Propaganda sei und sofort gestoppt werden müsse», sagte Becker laut Pressemitteilung.

Wenn sich die Ausstellungsleitung noch immer weigere, dieser inzwischen auch von den Gesellschaftern erhobenen Forderung nachzukommen, «dann lässt sie vorsätzlich die öffentliche Verbreitung von Terrorismusverherrlichung zu», erklärte Becker. Er könne sie nur davor warnen, dies auch nur einen Tag länger fortzusetzen, da sie sich damit möglicherweise strafrechtlich relevant verhalte. (mit dpa)

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