Rivi Greenfeld steht täglich am Fenster und blickt hinaus. Die vereinsamte Rentnerin schaut auf das Treiben in ihrem Viertel, dem hippen Neve Zedek, nah am Strand von Tel Aviv. Vor allem aber starrt Rivi Greenfeld ins Leere, so wie es bereits ihre Mutter getan hat. Gefühle und Erinnerungen brodeln in ihr schon jahrzehntelang vor sich hin. Als sie ein weiteres Mal vom Gefühl des Ausgeliefertseins erdrückt wird, macht Rivi Greenfeld etwas Ungewöhnliches: Sie äußert sich.
Greenfeld fängt an, E-Mails und WhatsApp-Nachrichten zu schreiben. Die Nachrichten dienen ihr zunächst dazu, sich Luft zu schaffen angesichts des immer näher rückenden Abrisses ihres eigenen Zuhauses. Im Laufe der wenigen verbleibenden Tage kontaktiert sie aber nicht mehr nur die für den Abriss verantwortliche junge Unternehmerin. Greenfeld beginnt unter anderem auch einen Monolog mit einem verstorbenen Liebhaber und ihren Eltern. Zudem reicht sie bei der Akademie für Hebräische Sprache Anträge zur Erweiterung des hebräischen Wortschatzes ein.
Rückschau auf das eigene Leben
Ob frühmorgens, tagsüber oder in den vielen schlaflosen Nächten, Greenfelds Gedankenfluss entwickelt sich zu einer selbstkritischen Rückschau auf ihr eigenes Leben. Nicht von individuellem Glück, bereichernden zwischenmenschliche Beziehungen oder der gelungenen Entwicklung der eigenen Persönlichkeit erzählt die 69-Jährige. Im Zentrum stehen stattdessen wirkmächtige Illusionen und verpasste Chancen. Rivi Greenfeld ringt mit ihrer eigenen Handlungsmacht in einer Situation, in der ihr bewusst wird, dass sie vieles nicht mehr ändern kann.
Greenfeld ist die Protagonistin von Lizzie Dorons neuem Roman Nur nicht zu den Löwen. Auf weniger als 200 Seiten erzählt die israelische Autorin von der existenziellen Erfahrung eines Menschen, der sein Zuhause verliert. Vordergründig geht es dabei um die gerade in Neve Zedek unübersehbare Gentrifizierung Tel Avivs. Auf kunstvolle Weise verbindet Doron mehrere thematische Stränge, die das Buch zu einem beeindruckenden Leseerlebnis machen.
Zur Sprache kommen Greenfelds Erfahrungen sexueller Gewalt und mit subtileren Formen der Herabwürdigung. So wurde Rivi etwa gerade im Berufsleben auf ihre äußere Schönheit reduziert und damit als Journalistin kleingehalten. Bislang suchte Greenfeld die Verantwortung hierfür jedoch kaum bei den handelnden Personen. Den männlichen Blick von außen hatte sie ihr Leben lang internalisiert. Das beginnt sie in ihrer Rückschau zu reflektieren. Doch noch immer ist ihre Selbstsicht von Minderwertigkeitsgefühlen, Scham sowie der Infantilisierung durch andere geprägt.
Der immer näher rückende Abriss triggert zudem Greenfelds Trauma als Angehörige der zweiten Generation von Schoa-Überlebenden. Sie parallelisiert die Erfahrung ihrer eigenen Entwurzelung mit der Geschichte ihrer aus Europa stammenden Eltern. »Am Tag der Vollstreckung« hofft Greenfeld für einen Moment, dass sich das Klopfen an ihrer Tür als ein Signal des Propheten Eljahu entpuppt. Doch es ist die »Soldateska des Räumungsunternehmens«, die Greenfeld mit nichts Geringerem als mit einem kämpferischen: »Am Israel Chai – Das Volk Israel lebt« empfängt.
Melancholischer und verletzlicher Ton
Nur nicht zu den Löwen ist ein intimes Buch, das Doron in einem melancholischen und verletzlichen Ton geschrieben hat. Explizite politische Schlussfolgerungen legt der Roman nicht nahe, auch wenn das Wissen um die politischen Positionen von Lizzie Doron Bezüge über den Text hinaus herstellen lässt. So zur israelischen Protestbewegung, die ebenfalls um den Erhalt ihrer Heimat als jüdisch-demokratischer Staat kämpft. Oder zur Flucht und Vertreibung von Palästinensern im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges – und zu den aktuellen Massakern der Hamas.
Rivi Greenfelds Schilderung ihres eigenen Lebens wird durch einen versöhnlichen Schluss aufgefangen. Nur nicht zu den Löwen ist ein berührender Roman nicht nur über das Leiden, sondern auch über das Erinnern.
Lizzie Doron: »Nur nicht zu den Löwen«. Roman. Übersetzt von Markus Lemke. dtv, München 2023, 192 S., 23 €