Wie wird man Schriftstellerin? Grace Paley war es nach eigenem Bekunden schon immer. Zunächst war das Gedicht ihr Format, mit über 30 fand sie ihr wahres Medium, die Kurzprosa. Susan Sontag zählte Paley zu einer seltenen Gattung. Sie schreibe »komisch, traurig, bescheiden, energisch, genau«. Dabei hatte Paley die Form der Kurzgeschichte gewählt, weil sie als zweifache Mutter für Romane nie die notwendige Zeit und Ruhe gefunden hätte.
Während es in Deutschland eher die Ausnahme ist, kann man in den USA mit Erzählungen reüssieren. Gleich der erste Sammelband The Little Disturbances of Man (1959) erregte Aufmerksamkeit. Und für den deutschen Markt wurde Paley Anfang der 70er-Jahre vom Suhrkamp Verlag entdeckt. Die ersten Erzählungen erschienen unter dem holprigen Titel Die kleinen Störungen der Menschheit. Geschichten vom Lieben.
gesamtwerk Inzwischen gibt es eine Neuübersetzung bei Schöffling & Co., wo man in den 2010er-Jahren begann, das Gesamtwerk neu herauszugeben, mit dem Titel Die kleinen Widrigkeiten des Lebens. Storys (2013). Gerade die Überschriften sind bedeutungsvoll, weil sie Schlüsselmomente des Lebens beschreiben, wie sie jedem widerfahren – insbesondere Frauen.
2014 erschien der Erzählband Ungeheure Veränderungen in letzter Minute, ebenfalls einfühlsam übersetzt von Sigrid Ruschmeier. 2015 folgten, übertragen von Mirko Bonné, Am selben Tag, später. Storys und 2018 Manchmal kommen und manchmal gehen. Gedichte. Quantitativ alles in allem überschaubar, qualitativ meisterhaft und Anlass genug, zum 100. Geburtstag genauer auf das Leben und Schaffen von Grace Paley zu blicken.
Das Milieu, in dem Grace im New Yorker Stadtteil Bronx aufwuchs, war geprägt vom Alltag osteuropäisch-jüdischer Einwandererfamilien.
Geboren wurde sie am 11. Dezember 1922 als jüngstes von drei Kindern des Ehepaares Manja, geborene Ridnyik, und Isaac Goodside. Der Name der aus der Ukraine eingewanderten Eltern war amerikanisiert und das Milieu, in dem Grace Goodside im New Yorker Stadtteil Bronx aufwuchs, geprägt vom Alltag osteuropäisch-jüdischer Einwandererfamilien. Es sollte ihre erste wichtige Inspirationsquelle werden. 1982 erklärte sie in einem Interview: »Ich glaube, das Formale verdanke ich der Literatur, aber die Sprache und meine Stoffe habe ich aus meiner Umgebung, vom Park, von der Straße und meiner Familie.«
Es heißt, dass die wiederkehrende Figur Faith Darwin autobiografische Züge trage. Paley bestritt dies, sie stehe ihr lediglich nahe: »Sie ähnelt meistens meinen Freundinnen mehr als mir selbst.« Hier schimmert auch der Humor durch, mit dem sie vor allem die Heldinnen ihrer Geschichten skizziert. Ihre Ausbildung war fragmentarisch. Sie beendete weder Highschool noch Uni-Kurse.
Leben Ihr Leben verlief zunächst eher konventionell: 1942 Heirat mit dem Fotografen und Filmemacher Jess Paley, 1949 und 1951 Geburt der Kinder, 1967 Trennung, 1972 Scheidung, danach Heirat mit dem Autor Bob Nichols. Doch schon Anfang der 60er-Jahre war sie bei der Gründung des Greenwich Village Peace Centers dabei, protestierte gegen den Vietnam-Krieg.
1965 nahm sie eine Lehrtätigkeit auf, gab Kurse in Kreativem Schreiben. Paley reiste nach Frankreich und Schweden zu Treffen mit Wehrdienstverweigerern und 1969 nach Vietnam, um drei Kriegsgefangene in die USA zurückzubegleiten. Sie reiste nach Moskau, China, El Salvador und Nicaragua; 1978 gehörte sie zu den »White House Eleven«, die verhaftet wurden, weil sie vor dem Weißen Haus ein Anti-Atom-Banner ausgebreitet hatten.
1987 fuhr Grace Paley nach Israel, wo sie gegen die Politik in Bezug auf das Westjordanland und auf Gaza wetterte. Es war ein weiter Weg, der Grace Paley vom Einwanderermilieu bis zum politischen Aktionismus führte. Sie starb am 22. August 20o7 in Thetford Hill, Vermont.