Ist es eigentlich halal, ein T-Shirt mit dem Gesicht von SpongeBob Schwammkopf zu tragen? Eine Frage, die sich Erwachsenen eher selten stellt, treibt jugendliche Muslime um, die sich mit ihrer Religion auseinandersetzen wollen. Die Antwort darauf liefert ihnen Abul Baraa. Der Prediger beantwortet auf dem TikTok-Kanal der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) in Braunschweig auch andere Fragen wie: Dürfen Muslime einen Hamster als Haustier halten oder ihre Mitschüler bei Prüfungen abgucken lassen?
Mit dieser Art von Fatwa für den Alltag hat die DMG Braunschweig rund 34.000 Fans auf TikTok bekommen, ihre Videos haben bisher mehr als 500.000 Likes erzielt. Unter den Zuschauern dürfte auch das Bundesamt für Verfassungsschutz sein, denn die DMG steht wegen ihrer Nähe zur antidemokratischen und radikal-islamischen Muslimbruderschaft schon seit Jahren unter Beobachtung.
Experten warnen schon länger, dass die islamistische Szene TikTok zur Indoktrinierung missbraucht. »Baraa beantwortet Fragen von Jugendlichen, ob sie SpongeBob-T-Shirts tragen oder Fortnite spielen dürfen. Durch Verschlagwortung und Algorithmen bekommen Nutzer außerdem immer weitere Empfehlungen. Plötzlich beantworten dann Prediger Fragen wie: Darf ich wählen, Musik hören oder eine Kirche besuchen?«, sagt Kaan Orhon von der Beratungsstelle für Deradikalisierung »Grüner Vogel«.
»Das führt nach und nach zu immer radikaleren Inhalten, ein sogenanntes Rabbit Hole«, sagt der Experte. »Wir beobachten, dass das Wachstum in der salafistischen Szene in den vergangenen Jahren stagniert oder sogar schrumpft. Es besteht die Sorge, dass sich das durch TikTok ändert«, warnt Kaan Orhon.
TikTok hat allein in Deutschland rund 21 Millionen Nutzer
Denn Gelegenheiten, Nutzer in den Kaninchenbau zu locken, gibt es für die Islamisten genug. TikTok hat allein in Deutschland rund 21 Millionen Nutzer, mehr als drei Viertel aller Jugendlichen nutzen die Plattform. »Islamistische Prediger sind zum Teil sehr charismatische Personen, mit jugendaffiner Sprache, mit der sich Rezipienten identifizieren können. Ihre Videos sind leicht zugänglich, kurz und prägnant, und Jugendliche werden dort angesprochen, wo sie einen großen Teil ihres Tages verbringen«, sagt Piotr Suder von der Extremismus-Präventionsstelle »ExPO«.
Die Video-Plattform ist keine seriöse Nachrichtenquelle, aber genau das macht sie für Islamisten attraktiv. »TikTok ist vor allem erst einmal ein Unterhaltungsprogramm. Wer die App aufmacht, will sich unterhalten lassen und sich nicht tief mit einem Thema befassen. Das macht es einfacher für Islamisten, ihre simplen Botschaften in die Köpfe zu bekommen«, so Suder. Gleichzeitig würden sie aber auch ihre Präsenz auf anderen Plattformen wie YouTube oder Instagram aufbauen.
»Damit versuchen sie, möglichst viele Zielgruppen zu erreichen, abhängig von deren Aufmerksamkeitsspanne. YouTube-Videos sind länger und ausführlicher als die auf TikTok. Aber die Videos verweisen auch aufeinander«, erklärt Suder. Der Soziologe bemängelt, dass nicht-radikale Muslime soziale Medien zu lange ignoriert und damit den Extremisten das Feld überlassen hätten: »Wenn Personen Fragen zum Islam haben, stoßen sie also schnell auf islamistisches Gedankengut.«
Allerdings reicht TikTok allein nicht, um Islamisten zu rekrutieren. »Dass Menschen sich ohne vorherige Berührungspunkte zum Islamisten radikalisieren, ist eher unwahrscheinlich. Die Praxis belegt, dass es ein persönlicher Kontakt aus dem Umfeld ist, der einen da reinholt. Das Internet spielt eine Rolle, ist aber nicht der Ursprung«, erklärt Kaan Orhon.
Osama bin Ladens »Brief an Amerika«
Doch auch Nicht-Muslime verbreiten bei TikTok islamistische Propaganda. Nach den Massakern der Hamas wurde Osama bin Ladens »Brief an Amerika« zu einem Phänomen auf der Video-Plattform. In dem Ende 2002 verfassten Brief rechtfertigt der ehemalige Al-Qaida-Chef die Anschläge vom 11. September unter anderem mit der Unterstützung der USA für Israel. Die Gründung des jüdischen Staates sei »eines der größten Verbrechen«, die Vereinigten Staaten würden von Juden kontrolliert, heißt es darin.
Auch wenn die antisemitische Hetzschrift nicht viral ging, wurde sie dennoch von Tausenden Nutzern begeistert gelesen. »Dieser Brief war unfassbar Augen öffnend«, erzählte etwa eine amerikanische Nutzerin. Eine andere schilderte, dass Bin Laden ihre Weltsicht verändert habe. Auffällig ist, dass vor allem junge Menschen für Bin Ladens Verschwörungsfantasien anfällig sind.
Für den Psychologen und Verschwörungstheorie-Experten Sebastian Bartoschek hängt das mit Abkoppelungsprozessen zusammen, aber auch mit der postkolonialen Theorie, die gerade bei jungen Erwachsenen populär ist. »Junge Menschen suchen nach Antworten und wollen dabei auch das verlassen, was ihnen von der Erwachsenenwelt als richtig gezeigt wird«, sagt er. »Es gibt ein grundlegendes Bedürfnis nach klaren Weltbildern, und die postkoloniale Theorie bietet ein dichotomes Opfer-Modell. Sie spricht Weißen ab, Opfer sein zu können. Demzufolge können Juden auch keine Opfer sein, und Israel wird zu einem weißen Kolonialisierungsprojekt«, so Bartoschek.
»Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Leute Gutes tun wollen, aber in Kombination mit dem Freund-Feind-Denken entsteht eine Kritik-Immunisierung, die Menschen auch für Verschwörungstheorien anfällig macht. Ich spreche ihnen nicht ab, dass sie gegen Diskriminierung sind, aber sie wollen den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.«