»Die ihr am Leben bleibt, vergesst nie unsere unschuldige, kleine jüdische Straße. Schwestern und Brüder, rächt uns an unseren Mördern.« So endet eine in Jiddisch verfasste, an den Wänden der Synagoge in der ukrainischen Stadt Kowel angebrachte Aufschrift von Esther Srul, die dort am 15. September 1942 von den NS-Besatzern ermordet wurde. »Zieh in den Krieg und räche deine Frau und deinen einzigen Sohn. Man führt uns in den Tod, und wir sind unschuldig«, lautet eine weitere, von Gina Atlas stammende Aufschrift aus Kowel.
Diese und weitere Zitate aus Abschiedsbriefen von in der Schoa Ermordeten sind derzeit im Jüdischen Museum Frankfurt zu sehen. Die aus der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem stammenden, erschütternden Zeugnisse sind Teil einer umfangreichen Ausstellung, die dem Aspekt der Rache in der jüdischen Kulturgeschichte nachspürt. Rache. Geschichte und Fantasie spannt einen weiten Bogen von der Hebräischen Bibel über diverse Epochen bis zur Popkultur der Gegenwart.
BASELBALLSCHLÄGER So stößt man im Eingangsraum der Ausstellung auf einen Baseballschläger – eine Requisite aus Quentin Tarantinos Spielfilm Inglourious Basterds (2009), in dem jüdische Soldaten und eine Überlebende Racheakte an Nazis verüben. Im Ausstellungssaal folgen mehrere historische Gemälde, deren Protagonisten die biblischen Figuren Judith und Samson sind. Zeremonialobjekte sind in der Schau ebenso anzutreffen wie Comics und Graphic Novels, zeitgenössische Kunstwerke ebenso wie Dokumente der Zeitgeschichte. Wie passt das alles zusammen?
Die Schau hat Mirjam Wenzel gemeinsam mit Erik Riedel und Janis Lutz sowie dem Lyriker und Publizisten Max Czollek kuratiert.
»Die Ausstellung ist gedacht als Gesprächsangebot über eine Emotion, die mit jahrhundertealter Gewalterfahrung zu tun hat«, erläutert Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt. Es gehe um die Frage, was man dieser Gewalt entgegensetze. Die Schau hat Wenzel gemeinsam mit ihren Mitarbeitern Erik Riedel und Janis Lutz sowie dem Lyriker und Publizisten Max Czollek kuratiert. »Das ist eine Ausstellung, die mit Empowerment zu tun hat«, betont Wenzel. Es gehe um Selbstermächtigung. Jüdinnen und Juden in Deutschland wollten heute, so Wenzel, nicht ausschließlich auf Opfernarrative reduziert werden.
DÄMONIN Um das viel beschworene Empowerment geht es etwa bei der in den Vereinigten Staaten verlegten, jüdischen Frauenzeitschrift »Lilith«, von der einige Exemplare aus den 70er-Jahren und weiteren Jahrzehnten in der Ausstellung gezeigt werden. Benannt ist das Magazin nach Adams erster Frau, die sich einer Legende nach ihrem Mann widersetzte, das Paradies verlassen musste und hernach als Dämonin galt, vor der man sich mit Amuletten zu schützen versuchte.
»In der Zweiten Frauenbewegung wird Lilith als eine Figur der Emanzipation entdeckt«, sagt Mirjam Wenzel. Denn Lilith unterwerfe sich Adam nicht und übe Rache an den diskriminierenden Männern. Auch in Comics und Graphic Novels taucht Lilith als Figur auf. Nicht nur hier macht die Ausstellung anschaulich, wie sehr sich auch die Gegenwartskultur auf traditionelle Überlieferungen bezieht.
Es scheint, als hätten die Kuratoren der mutmaßlich ersten »Rache«-Ausstellung einen fast schon enzyklopädischen Anspruch verfolgt.
Die biblische Geschichte von Judith etwa, die den assyrischen Heerführer Holofernes enthauptet, ist aus der abendländischen Kunst nicht wegzudenken. In der Ausstellung zeugt davon unter anderem ein Gemälde von Jacopo Ligozzi, eine Leihgabe aus den Uffizien in Florenz.
JUDITH Doch auch zeitgenössische Künstler wie der amerikanische Maler und Obama-Porträtist Kehinde Wiley greifen das Sujet auf: In seiner opulenten, farbenprächtigen Interpretation der biblischen Geschichte ist Judith schwarz – und der geköpfte Holofernes indes eine weiße Frau. Mit diesem Gemälde wolle man, erläutert Mirjam Wenzel, zeigen, dass auch andere Minderheiten, etwa People of Color, die Erfahrung von Entrechtung und Gewalt in der Diaspora machten. Gleichwohl liege der Fokus der Ausstellung auf jüdischer Kulturgeschichte. Es sei erstaunlich, so Wenzel weiter, dass es in diesem Kontext noch nie eine Ausstellung zum Aspekt der Rache gegeben habe. »Weil es ein sehr wirkmächtiges antisemitisches Stereotyp ist«, vermutet die Museumschefin.
Es scheint, als hätten die Kuratoren der mutmaßlich ersten »Rache«-Ausstellung einen fast schon enzyklopädischen Anspruch verfolgt und keinen Teilaspekt auslassen wollen. Nicht alle Ausstellungskapitel lassen sich eindeutig dem ohnehin schon weit gefassten Titelthema zuordnen.
So wirken die Exponate, die von jüdischen Piraten, Räuberbanden und der berüchtigten amerikanischen »Kosher Nostra« erzählen, eher wie Exkurse und Seitenstränge. Dass die Schau möglichst viele Zielgruppen erreichen und mitunter auch spielerisch wirken möchte, ist etwa an einer Fotowand mit diversen Bildhintergründen und Accessoires sowie dem Medienraum mit PC-Spielen, Filmen und Comics abzulesen.
»NAKAM« Am eindringlichsten wirkt die Ausstellung unterdessen in einem ihrer letzten Kapitel, das sich der Rache an den Nationalsozialisten widmet. Dort sind etwa die eingangs erwähnten Zeugnisse von in der Schoa Ermordeten zu lesen, die zur Rache aufrufen. Aber auch die Geschichte von David Frankfurter wird dort erzählt: Mit »Nakam«, dem hebräischen Wort für Rache, bezeichnete er 1936 seinen Mord am Leiter der Schweizer NSDAP-Landesgruppe Wilhelm Gustloff.
Bei Rache geht es auch um den Aspekt der Gerechtigkeit, resümiert Mirjam Wenzel.
»Nakam« hieß auch die Gruppe um den Partisanen und Schriftsteller Abba Kovner, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Plan verfolgte, durch die Vergiftung von Trinkwasser sechs Millionen Deutsche zu ermorden. Das Vorhaben scheiterte. 2009 widmete der Musiker Daniel Kahn Kovner und seiner Gruppe den Song »Six Million Germans«. Kahn spielt auch eine der Hauptrollen in Daniel Laufers Videoinstallation »Revenge«, die mehrere Racheerzählungen filmisch vereint.
Bei Rache gehe es auch um den Aspekt der Gerechtigkeit, resümiert Mirjam Wenzel. Wenn man auf die Zeit nach der Schoa blicke, dann sehe man, wie wenig die Taten der Nazis geahndet worden seien. Die Überlebenden, insbesondere in Deutschland, hätten, so Wenzel, vieles sublimiert. »Die jüngere Generation will es nicht mehr verdrängen.« Vielleicht ist auch deshalb die Zeit reif für ein Wagnis wie diese Ausstellung.
Die Ausstellung ist bis zum 17. Juli im Jüdischen Museum Frankfurt zu sehen.