Die Infektionszahlen in Deutschland steigen dramatisch. Immer hitziger wird über den Stellenwert der dritten Impfung gegen das Coronavirus und mögliche Einschränkungen für Ungeimpfte diskutiert. Derweil forschen Wissenschaftler seit geraumer Zeit intensiv an wirksamen und sicheren Medikamenten gegen Covid-19.
Am vergangenen Donnerstag kamen hochkarätige deutsche und israelische Forscher zu einem online übertragenen Austausch zusammen, um diese und andere aktuelle Themen rund um die Pandemie zu erörtern. Eingeladen hatte die in München ansässige Max-Planck-Gesellschaft sowie das Generalkonsulat des Staates Israel für Süddeutschland.
KOOPERATIONEN Generalkonsulin Carmela Shamir lobte einleitend die Zusammenarbeit zwischen dem Weizmann-Institut für Wissenschaft in Rehovot und der Max-Planck-Gesellschaft. Sie sei älter als die offiziellen bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Die Wissenschaftskooperation sei ein »Schlüsselbaustein«, um Länder und Menschen einander näher zu bringen, betonte sie.
Alon Chen lenkte den Blick auf die langfristigen gesundheitlichen Folgen von Covid-19.
Der Präsident des Weizmann-Instituts, Alon Chen, erklärte, es gebe jedes Jahr 30 gemeinsame Projekte zwischen den Max-Planck-Instituten und der von ihm geleiteten Forschungseinrichtung. Er lenkte den Blick auch auf ein Thema, das aus seiner Sicht noch aktuell sein wird, wenn die Pandemie wieder vorbei ist: die langfristigen gesundheitlichen Folgen von Covid-19. Schon jetzt verzeichne man, so Chen, einen Anstieg von Depressionserkrankungen und Suizidversuchen, auch bei jüngeren Personen.
EXPERTEN In der anschließenden Expertenrunde unter der Moderation der Journalistin Monika Jones diskutierten Ugur Sahin, Mitbegründer und Vorstandschef des Mainzer Unternehmens BioNTech, der Molekulargenetiker Tzachi Pilpel vom Weizmann-Institut sowie der Göttinger Molekularbiologe Patrick Cramer.
»Wie fühlt es sich an, im wahrsten Sinne des Wortes die Welt zu retten, und wie gehen Sie mit dem Druck und der Verantwortung um?«, fragte Jones den BioNTech-Chef. Er sehe seinen Erfolg bei der Entwicklung des Corona-Impfstoffs als Ergebnis der gesamten wissenschaftlichen Community, die zu diesem Thema seit Jahren forsche, antwortete Sahin. Bei BioNTech habe man immer an die neuartigen mRNA-Impfstoffe und ihre Wirksamkeit auch gegen das SARS-CoV2-Virus geglaubt. »Aber gleichzeitig sind wir auch immer sehr skeptisch im Hinblick auf die eigenen Forschungsergebnisse«, so Sahin.
Die Wissenschaft wurde in den vergangenen Monaten enorm beschleunigt, sagte Patrick Cramer.
Möglicherweise im kommenden Sommer könne man dank der Impfungen und der Zahl der genesenen Infizierten mit einer Art Herdenimmunität rechnen, prognostizierte Sahin, der aus Washington zugeschaltet war, wo er an einer Forscherkonferenz zur Krebsbekämpfung teilnahm. Erst dann werde der Druck auf ihn und seine Teams etwas nachlassen – und erst dann könne man sich, so der BioNTech-Chef weiter, in Ruhe mit anderen, längerfristigen Fragen beschäftigen.
Einiges habe sich im Zuge der Pandemie auch zum Guten verändert: Der Stellenwert von Wissenschaft sei wieder in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt, und Forschungsergebnisse würden mittlerweile schon am Tag nach ihrer Erstveröffentlichung intensiv analysiert und diskutiert.
VORHERSAGEN Patrick Cramer stimmte Sahin zu. Die Wissenschaft sei enorm beschleunigt worden in den vergangenen Monaten. Man müsse aufpassen, dass die Forscher nicht überfordert würden. Nur einen Teil der Zukunft, wie zum Beispiel den Klimawandel, könne man vorhersagen, betonte er.
»Was jenen Teil angeht, den wir nicht vorhersagen können, so können wir uns darauf nur mittels Forschung vorbereiten. Deshalb brauchen wir den gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Forschung unterstützt werden sollte, auch wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Durchführung als nutzlos erscheint. Es wird der Moment in der Zukunft kommen, an dem wir eine Technologie brauchen werden, von der vorher jeder geglaubt hat, sie sei nutzlos.«
Tzachi Pilpel brachte es mit einem jüdischen Sprichwort auf den Punkt. Gefragt, ob man auf Dauer mit dem Coronavirus werde leben müssen, sagte er: »Seit der Zerstörung des Tempels sind Prophezeiungen etwas für dumme Leute.« Hoffnung gäben aber, so Pilpel, bereits vorhandene Methoden zur Bekämpfung der Pandemie, die ihre Wirksamkeit gezeigt hätten. Man wisse zwar nicht, wie sich die Dinge mit dem Virus weiterentwickelten, aber: »Die Menschheit wird damit leben können.«
Der Booster schützt vor einem schweren Corona-Verlauf, betont Ugur Sahin.
Allerdings gehe es nicht nur darum, Herdenimmunität gegen die aktuell vorherrschende Delta-Variante des SARS-CoV-2-Virus zu erreichen, sondern auch gegen künftig auftretende Mutationen gewappnet zu sein.
Pilpel setzt auf einen Mix aus Impfen und medikamentöser Behandlung von Covid-Erkrankten, denn alle Medikamente würden auf längere Sicht immer einen Teil ihrer Wirksamkeit einbüßen. Deshalb sei es wichtig, neben neuen Behandlungsmethoden immer auch einen guten Immunschutz durch das Impfen zu erzielen. Zudem, so Pilpel, sei es besser, sich gar nicht erst mit dem Coronavirus zu infizieren.
FAKTOREN Ugur Sahin plädierte zum Schluss für einen »pragmatischen Ansatz« in der Debatte um die Auffrischungsimpfung. »Wir wissen noch nicht, warum und wie stark der Impfschutz nach einigen Monaten nachlässt. Da gibt es individuelle Faktoren, und ein gewisser Prozentsatz von Personen baut keinen ausreichenden Antikörperschutz auf.«
Der einfachste Weg sei aber der israelische, sagte der BioNTech-Chef. Dort wird die Bevölkerung längst zum dritten Mal gegen das Coronavirus geimpft. Der Booster schütze auf jeden Fall vor einem schweren Verlauf bei einer möglichen Covid-19-Erkrankung, betonte Sahin.