Noch Jahrzehnte später wird Majer Szanckowers Stimme rau, wenn er von einem Versäumnis spricht, das er sich anscheinend bis heute nicht verzeihen kann: dass er seinen Vater nie nach Auschwitz gefragt hat. Dimitrius stimmt das nachdenklich: »Ich weiß sehr wenig über meine Familiengeschichte. Ich muss mit meiner Mutter reden, bevor es zu spät ist.«
Dimitrius stammt aus der ehemaligen Sowjetunion, lebt jetzt in Norddeutschland und studiert Medizin. Er besucht die fünftägige Sommerakademie, die der Zentralrat als Fortbildungsangebot besonders für jüdische Studenten vergangene Woche wieder in Frankfurt veran- staltet hat. Dieses Mal stehen »Jüdische Perspektiven auf Nachkriegsdeutschland« im Mittelpunkt. »Das Thema drängte sich uns auf, weil wir feststellen mussten, dass die Geschichte des neu entstandenen Judentums in der Bundesrepublik vor allem unter den Neueinwanderern kaum mehr bekannt ist«, begründet Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung, die Wahl des diesjährigen Programms.
DP-Camp Daher ist Majer Szanckower als Zeitzeuge eingeladen, um den Teilnehmern etwas über diese frühen Jahre zu erzählen, aus dem Blickwinkel eines aufmerksam beobachtenden jüdischen Kindes, das der 1947 Geborene damals war. Ihn und die anderen beiden Zeitzeugen Sammy Weinberger und Shimon Ajnwojner eint eine gemeinsame Erfahrung: Sie haben einige Zeit im DP-Camp im bayerischen Föhrenwald verbracht, bis sie und ihre Familien Wohnungen im Frankfurter Ostend bekamen.
»Wie konnten sich Juden damals in diesem moralisch wie materiell zerstörten Deutschland etablieren?«, will Sabena Donath, Leiterin der Bildungsabteilung, von den dreien wissen. Diese Frage beschäftigt auch die Studenten. »Warum ausgerechnet das Land der Täter?«, fragt einer. »Wir waren nicht in Deutschland, wir haben exterritorial gelebt, hatten keinen Kontakt zu den Einheimischen«, beschreibt Majer Szanckower die Situation im DP-Camp. »Wir sprachen dort kein Deutsch, Jiddisch war unser Alltag.«
Später, mit dem Umzug nach Frankfurt, sei man nicht nach Deutschland gegangen, sondern »zu den Amerikanern«. »Und wir hatten Pässe, die uns als ›heimatlose Ausländer‹ klassifizierten.« Sammy Weinberger spricht von seinem Schmerz, wenn er andere über ihre unbeschwerte Jugend erzählen hört: »Das kann ich kaum ertragen. Ich hatte nie eine Kindheit, habe meine Großeltern nie kennengelernt.« 70 seiner Angehörigen wurden in der Schoa ermordet.
Shimon Ajnwojner, der 1950 in Föhrenwald geboren wurde, erinnert sich, dass seine Eltern ihm nach der Ankunft in Frankfurt zunächst jeden Kontakt mit Nichtjuden untersagten. Später durfte er zu den Geburtstagsfeiern seiner Mitschüler gehen: »Und jedes Mal konnte ich beobachten, wie das aufgestellte Foto im Goldrahmen mit Vater oder Opa in Wehrmachts- oder SS-Uniform schnell umgedreht wurde, wenn ich das Wohnzimmer betrat.«
Ghetto Ein erstes Aufbäumen gegen das Verdrängen wagten vor 30 Jahren junge Frankfurter Juden. Bei Baggerarbeiten zum Neubau der Gas- und Elektrizitätswerke war man auf die Fundamente von 19 Häusern des ehemals »Judengasse« genannten Frankfurter Ghettos gestoßen, über Jahrhunderte eines der Zentren des europäischen Judentums.
Die Stadt wollte die Funde dokumentieren und anschließend komplett abtragen lassen. Gegen diese Zerstörung richtete sich damals der Protest, der als »Börneplatz-Konflikt« weit über die Mainstadt hinaus bekannt wurde, wie die Studenten der Sommerakademie erstaunt erfahren. Heute befindet sich an diesem Ort das Museum »Judengasse«, in dem sich ein Teil der Fundamente sowie eine beeindruckende Judaica-Sammlung besichtigen lassen.
Einen zweiten Schwerpunkt bildete die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der maßgeblich für das Zustandekommen des Auschwitzprozesses in den 60er-Jahren verantwortlich war. Zwei Filme zu Fritz Bauer und der Besuch einer Ausstellung zu seinem Leben und Wirken in Köln sollten den Teilnehmern die Möglichkeit eröffnen, in die Atmosphäre dieser Epoche einzutauchen, in der die meisten Deutschen nur allzu gerne vergessen wollten, was geschehen war.
Auschwitzprozess Umso spannender der Auftritt eines besonderen Zeitzeugen: Staatsanwalt a.D. Gerhard Wiese hatte am Auschwitzprozess als einer der vier Anklagevertreter mitgewirkt. »Mord und Totschlag, Tag für Tag, ich war jedes Mal froh, wenn ich nach einem Verhandlungstag rauskam und wieder in die normale Welt eintauchen konnte«, beschrieb der 88-Jährige, wie sehr ihn die dort verhandelten Verbrechen damals belasteten.
Die Zeugen, meist Überlebende, hörten im abgedunkelten Gerichtssaal zum ersten Male wieder Deutsch, die gefürchtete, verhasste Sprache, und sahen sich ihren Peinigern gegenüber, die als Angeklagte in einem Block zusammensaßen, ohne jede sichtbare Regung zuhörten und allesamt beteuerten, sie hätten zwar ihren Dienst im KZ versehen, »aber nichts Schlimmes getan«.
Die Staatsanwälte argumentierten damals, dass Auschwitz eine geschlossene Einrichtung, eine Tötungsmaschinerie, gewesen sei, sodass jeder, der dort tätig war, sich schuldig gemacht habe. Das Schwurgericht wollte dieser Auffassung nicht folgen, sondern beharrte auf dem »reinen Schuldrecht«, wonach für eine Verurteilung jedem Angeklagten lückenlos seine individuellen Taten nachgewiesen werden müssen. So gab es am Ende sogar einige Freisprüche. Doch zweifelt Wiese bis heute nicht am Sinn der Verfolgung von NS-Straftaten: »Diese Prozesse müssen sein, nicht so sehr der Täter wegen, sondern um der Opfer willen.«