Begriffe

Von der »Kristallnacht« zum »Novemberpogrom«

Der 9. November 1938 im deutschen Sprachgebrauch: eine Spurensuche

von Christoph Gutknecht  05.11.2012 17:53 Uhr

Ein Verbrechen, viele Namen: zerstörtes jüdisches Geschäft 1938 Foto: dpa

Der 9. November 1938 im deutschen Sprachgebrauch: eine Spurensuche

von Christoph Gutknecht  05.11.2012 17:53 Uhr

Wenn heute öffentlich von dem Inferno der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 die Rede ist, spricht man von (Reichs-) »Pogromnacht« oder »Novemberpogrom«. Die lange gängigen Begriffe »Kristallnacht«, beziehungsweise »Reichskristallnacht« gelten inzwischen als politisch nicht korrekt.

Dabei konnten bis Anfang der 80er-Jahre diese nach 1945 populären Ausdrücke »weitgehend problemlos und undistanziert im öffentlichen Sprachgebrauch verwendet werden«, wie Thorsten Eitz und Georg Stötzel im Wörterbuch der »Vergangenheitsbewältigung« (2007) betonen: »Auf ihre vermeintliche nationalsozialistische Herkunft deutete nur die sporadische Verwendung von Distanzmarkern wie Anführungsstrichen oder sogenannt hin.«

nicht belegt Hermann Pauls Deutsches Wörterbuch (2002) schließt nicht aus, dass der Begriff »Reichskristallnacht« »von den Nazis in verschleiernder Absicht« geprägt worden sei, das Duden-Universalwörterbuch (2006) zählt das Lexem zum »nationalsozialistischen Jargon«. Beweise dafür fehlen allerdings. Es gibt für das Wort aus der Zeit vor 1945 nur einen mündlichen Beleg, im Tonbandmitschnitt einer Rede des NSDAP-Funktionärs Wilhelm Börger vom Juni 1939: »Die Sache geht als Reichskristallnacht in die Geschichte ein.«

Gedruckt taucht es erstmalig am 11. November 1945 auf, als die »Berliner Zeitung« es in Anführungszeichen benutzte, in einem »Hintergründe der ›Kristallnacht‹« betitelten Artikel. Kurz zuvor hatte man im »Tagesspiegel« lesen können, das Pogrom sei vor genau sieben Jahren und an den Folgetagen »im Volksmund die ›Kristallwoche‹ genannt« worden.

Für die FAZ war »Reichskristallnacht« noch 1992 »ein frivol-verwegenes und auch grimmig-politisches Witzwort«, der »Süddeutschen Zeitung« teilte 1998 ein Zeitzeuge mit, der Kabarettist Werner Fink habe es erfunden. Hermann Simon berichtete 1999 in der Reihe Via Regia über »Neue Quellen zum Novemberpogrom in Berlin«: »Wieder und wieder habe ich in den vergangenen zehn Jahren Zeitzeugen befragt, wann sie die Ereignisse des 9./10. November wie genannt haben.

Keiner kann sich so richtig erinnern: ›Pogrom‹, ›Nacht, als die Synagogen brannten‹, ›Kristallnacht‹ und immer wieder ›Reichskristallnacht‹, jene sprachliche Zwitterbildung, die von manchen für ein Scherzwort, wie etwa ›Reichswasserleiche‹, gehalten wird. Wann die Begriffe ›Kristallnacht‹ und ›Reichskristallnacht‹ entstanden sind, wissen wir nicht genau.«

euphemistisch Neben Zuschreibungs- gibt es auch Ausdeutungsversuche. Pauls Deutsches Wörterbuch verweist »auf den zerstörten großen Kristallleuchter eines Kaufhauses«. Ähnlich mutmaßen Brackmann und Birkenhauer (NS-Deutsch, 1988): »Der harmlos klingende Name wurde auch amtlich gebraucht und bezog sich auf die Berge von Glasscherben, die auf den Straßen lagen.«

Hier deuten sich Bedenken zum euphemistischen Wortcharakter an, wie sie Avraham Barkai in seinem Aufsatz Schicksalsjahr 1938 (1988) auf den Punkt brachte: »›Kristallnacht‹! Das funkelt, blitzt und glitzert wie bei einem Fest! Es wäre längst Zeit, dass diese böswillig-verharmlosende Bezeichnung zumindest aus der Geschichtsschreibung verschwände.« Schon 1948 hatte die »Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen« von einem »falschen Wort« gesprochen. Später wollte man Ablösevokabeln etablieren.

Der Politologe Harald Schmid nannte 2002 in der Wochenzeitung Freitag aus der frühen Nachkriegszeit unter anderem »Reichsscherbenwoche«, »Judennacht« und »Synagogensturm«. Durchgesetzt hat sich heute, was stellvertretend für viele Meier Schwarz in seinem Aufsatz Die »Kristallnacht«-Lüge reklamierte: »Der Ausdruck verschleiert jene Gräueltaten, die an jüdischen Mitbürgern verübt wurden, und sollte deshalb durch den Begriff Pogromnacht oder Novemberpogrom ersetzt werden.«

Doch inzwischen ist der Sprachgebrauch in manchen Medien wieder heterogen, nicht zuletzt wohl wegen Vorbehalten, wie sie der Historiker Friedemann Bedürftig am 7. November 1998 in der SZ artikuliert hat: »›Pogrom‹, wörtlich übersetzt ›Unwetter‹, hat etwas von Naturereignis und anonymisiert die Verbrecher. So schlägt die gute Absicht der Umbenenner in Verschlimmbesserung um.«

Interview

»Wir stehen hinter jedem Film, aber nicht hinter jeder Aussage«

Das jüdische Filmfestival »Yesh!« in Zürich begeht diese Woche seine 10. Ausgabe, aber den Organisatoren ist kaum zum Feiern zumute. Ein Gespräch mit Festivaldirektor Michel Rappaport über den 7. Oktober und Filme, die man zeigen soll

von Nicole Dreyfus  07.11.2024

Kino

Die musikalische Vielfalt vor der Schoa

Ein Musikfilm der anderen Art startet zu einem symbolträchtigen Datum

von Eva Krafczyk  07.11.2024

Kultur

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 7. November bis zum 17. November

 07.11.2024

Schoa

»Warum hat er uns das nie erzählt?«

Was geschieht, wenn eine jüdische Familie ein lange verschlossenes Kapitel der Vergangenheit öffnet

von Mascha Malburg  07.11.2024

Kolumne

Mit Skibrille zur Vernissage

Warum sich das örtliche Kunstmuseum einer mittelgroßen Stadt in Deutschland kaum von der documenta unterscheidet

von Eugen El  07.11.2024

Kultur und Unterhaltung

Sehen, Hören, Hingehen

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 7. November

 07.11.2024

Literatur

»Schwarze Listen sind barbarisch«

Der Schriftsteller Etgar Keret über Boykottaufrufe von Autoren gegen israelische Verlage, den Gaza-Krieg und einseitige Empathie

von Ayala Goldmann  07.11.2024

Sehen!

»I Dance, But My Heart Is Crying«

Die Plattenlabels Semer und Lukraphon veröffentlichten noch bis 1938 Musik von jüdischen Künstlern – davon erzählt ein neuer Kinofilm

von Daniel Urban  07.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Sukka-Fishing oder Sechs Stunden täglich auf dem Hometrainer

von Margalit Edelstein  06.11.2024