Pessach ist das Fest der Befreiung der Juden aus der Sklaverei Ägyptens. Die Wahrhaftigkeit der Tora besteht darin, die Freiheit nicht als schieres Wunder wie in einem Märchen erscheinen zu lassen, in dem der Zauberer seinen Stab schwingt, worauf die Sklaverei verschwindet.
Die Bibel berichtet vom zähen Kampf der Israeliten um die Freiheit. Moses und Aaron verhandelten mit dem Herrscher Ägyptens, die Hebräer endlich aus der Sklaverei zu entlassen. Da Pharao jedoch sein Herz verhärtete – was bei Alleinherrschern bis zur Gegenwart üblich ist –, benötigte Gott zehn Plagen, bis der König bereit war, die Nachkommen Jakobs aus der Sklaverei in die Freiheit zu entlassen.
Doch kaum waren die Hebräer aus dem Nilland ausgezogen, besann sich Pharao anders und ließ sein Heer die Verfolgung der Flüchtenden wiederaufnehmen, um sie erneut unter sein Joch zu bringen. Die Verfolgungsjagd des ägyptischen Heeres zwang die entkommenen Israeliten zur Eile. Ihnen blieb keine Zeit mehr, den Teig ihrer Brote mit Hefe zu versetzen, so entwickelten sie notgedrungen ihre ungesäuerten Mazzot. Seither werden sie jährlich zum Andenken an die Befreiung verspeist.
Gewalt Hier kreuzen sich biblische Überlieferung, geschichtliche Philosophie und Strategie. Der preußische Kriegstheoretiker General Carl von Clausewitz (1780–1831) befasste sich mit politisch-militärischer Strategie. Gott, so heißt es in der Heiligen Schrift, hat sein Volk mit starker Hand aus der Sklaverei Ägyptens geführt. Seine ultimative Plage war die Tötung der erstgeborenen Söhne Ägyptens gewesen.
General Clausewitz, der die Waffengänge Napoleons analysiert hatte und wohl auch die Bibel kannte, bezeichnete den »Krieg … (als) Akt der Gewalt«.
Hätten die Politiker Europas die Lehren aus Clausewitz’ Werk Vom Kriege, der Bibel und der griechischen Philosophie gekannt und beherzigt, wäre der Ukraine wahrscheinlich der Invasionsfeldzug Russlands erspart geblieben. Dann wäre ihnen bekannt gewesen, dass man den Frieden am besten erhalten kann, wenn man sich auf den Krieg vorbereitet.
Doch nach dem Inferno des Zweiten Weltkriegs und der unter seiner Tarnung vollzogenen Schoa wollten und meinten die Europäer, ein erneuter Krieg wäre auf ihrem Gebiet ausgeschlossen – dazu wären sie zu sehr gereift. Die Tora, die Geschichte, Clausewitz, aber auch Feldzüge wie in Vietnam, Irak, Nahost und dem früheren Jugoslawien hätten sie eines Schlechteren belehren müssen.
Dem Krieg liegt eine politische Ursache zugrunde, wie Clausewitz wusste.
Befreiungen, das lehren nicht nur Bibel und Geschichte, sind in der Regel blutige Prozesse. Das zeigt auch die Kunst auf. Man denke an das ikonografische Gemälde Eugene Delacroix’, »Die Freiheit führt das Volk« (1830). Das Bild ist mehr als das Fantasiegebilde eines Malers. Es erlangte singuläre Symbolik, da es den Geist der Befreiung mit Blut, Schweiß und Tränen spiegelt, die die Völker und Menschen kennen.
Die weitgehend friedliche Auflösung eines Imperiums als Ergebnis eines langen Erschöpfungszustandes wie im Fall der Sowjetunion am Ende des 20. Jahrhunderts ist ein historischer Ausnahmezustand. Nach nur wenigen Jahren erwachten erneut die alten nationalistischen und diktatorischen Reflexe.
Bereits in den ersten Jahren als Präsident erklärte Wladimir Putin die zurückliegende Implosion der Sowjetunion zur »größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts«. Das nahm man in den EU- und NATO-Staaten nicht ernst. Stattdessen erfreute man sich an der Befreiung der ehemaligen Länder des Warschauer Pakts und der einstigen UdSSR und beeilte sich, eine Reihe von ihnen in der EU und der NATO zu integrieren.
Interessenkonflikt Doch der russische Präsident, von den Westeuropäern zunächst als willfähriger Konkursverwalter der ehemaligen UdSSR missverstanden, machte bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 deutlich, dass er die allmähliche Reduzierung der Sowjetunion auf Russland nicht hinzunehmen bereit sei. Schon gar nicht die Aufnahme ehemaliger Sowjetrepubliken, speziell der Ukraine, in die NATO. Große Teile des russischen Establishments teilen diese Einstellung. In weiten Teilen der Ukraine dagegen sah man die nationale Unabhängigkeit als Akt der Befreiung. Hier zeichnete sich ein Interessenkonflikt ab, der das Potenzial zu einem Krieg besaß.
Die faktische Hinnahme der russischen Krim-Annexion durch die NATO- und die EU-Staaten 2014 mochte ebenso wie der überhastete Rückzug der USA aus Afghanistan Putin zum Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine ermutigt haben. Der Feldzug bleibt dennoch eine unentschuldbare Aggression. Keine Befreiung! Lügen und Kriegsverbrechen waren vom Kreml eingepreist.
Es gilt nun, Moskau durch harte Sanktionen zur Einstellung des Krieges zu nötigen. Denn dem Krieg liegt eine politische Ursache zugrunde, wie Clausewitz wusste. Daher gilt es, die organisierten Tötungen möglichst rasch zu beenden. Denn jeder Tag bringt neue Opfer und die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation. Am Ende muss, allen Gräueln zum Trotz, eine politische Übereinkunft gefunden werden. Möge sie ähnlich lange begangen werden wie Pessach.
Der Autor ist Schriftsteller, Journalist und Historiker. Soeben erschien sein Familien-Roman »Rafi, Judenbub. Die Rückkehr der Seligmanns nach Deutschland«.