Jubiläum

Von dauerhaftem Bestand

Herausgeber Karl Marx (M.) 1946 in Belsen im Gespräch mit Vertretern der britischen Armee

»Am Anfang stand, wie könnte es anders sein, die Idee. Nichts sonst. Nichts außer dem Gedanken, dass die Überlebenden der Konzentrationslager und die in ihre Heimat zurückkehrenden Juden ein Mitteilungsblatt benötigen, das ihnen bei der Orientierung im allgemeinen Nachkriegschaos brauchbare Dienste leisten könnte«, schrieb der langjährige Redakteur Friedo Sachser über die Gründung des Jüdischen Gemeindeblatts für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen.

Aus dem Gemeindeblatt wurde die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, dann die Allgemeine unabhängige jüdische Wochenzeitung, später die Allgemeine jüdische Wochenzeitung und schließlich die Jüdische Allgemeine. Aus der Idee wurde die einzige überregionale jüdische Zeitung in Deutschland von dauerhaftem Bestand.

karl marx Auch wenn ihre Namen wechselten – lange Zeit war die Zeitung mit einer Person verbunden: ihrem Herausgeber Karl Marx. Wie sein berühmter Namensvetter stammte auch die Familie jenes Karl Marx zum Teil aus Trier, er selbst war 70 Kilometer südlich in Saarlouis geboren, als junger Mann in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen, mit dem späteren Staatspräsidenten Theodor Heuss befreundet und bereits kurz nach Kriegsende aus dem englischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt. Von Düsseldorf aus agierte er zunächst im Schatten der britischen Besatzungsbehörden, später in der Nähe der Schalthebel der Bundeshauptstadt.

Ohne die Person Karl Marx kann man die Bedeutung der Allgemeinen in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik nicht verstehen.

Ohne die Person Karl Marx kann man die Bedeutung der Allgemeinen in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik nicht verstehen. Die Nähe zu Heuss und Adenauer machte Marx zum wohl einflussreichsten jüdischen Politiker jener Jahre. Ohne ein gewähltes Amt zu bekleiden, war er derjenige, den man um Auskunft bat, wenn es um die Belange deutsch-jüdischen Lebens ging. Seine Zeitung galt als Gradmesser für die Neugründung jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland.

1949 formulierte der Gouverneur der amerikanischen Zone, John J. McCloy, die Rolle der jüdischen Gemeinschaft folgendermaßen: »Was diese Gemeinde sein wird, wie sie sich selbst formiert und zum Teil eines neuen Deutschland wird, wird – so glaube ich – nahe und sorgfältig von der ganzen Welt beobachtet werden. Es wird in meinen Augen eine der Prüfsteine von Deutschlands Fortschritt werden.« Die Allgemeine war das Sprachrohr dieser Gemeinde – und wurde dementsprechend wahrgenommen. Wer wissen wollte, was in der jüdischen Gemeinschaft vorging und wie diese die politische Stimmung in der Bundesrepublik begleitete, las die Allgemeine.

politik Die Allgemeine war aber immer auch mehr als nur Berichterstatter über aktuelle deutsch-jüdische Politik – die Zeitung machte auch Politik. Die erste wesentliche Aussage eines führenden deutschen Politikers der Nachkriegszeit über das neue deutsche Judentum war ein Interview mit Kurt Schumacher im Jahre 1947. Und zwei Jahre später gelang es Karl Marx, Konrad Adenauer in einem Gespräch auf die Grundsätze der Wiedergutmachungspolitik festzunageln.

Überhaupt nahm in den ersten Jahren die Frage der sogenannten Wiedergutmachung eine zentrale Rolle nicht nur in den Berichten der Allgemeinen, sondern auch im öffentlichen Engagement von Karl Marx ein. Sein enger Kontakt zur Politik wurde auch von der Bonner Regierung für ihre Zwecke genutzt. Als Ende der 50er-Jahre die Rolle des Adenauer-Vertrauten Hans Globke, der einstmals Kommentator der Nürnberger Gesetze war, die jüdischen Gemeinden in der ganzen Welt beunruhigte, wurde Karl Marx auf eine Südamerikareise geschickt, um dort aktiv für das neue Deutschland zu werben.

Mit Marx’ frühem Tod 1966 begann ein neues Kapitel in der Geschichte der Allgemeinen. Sie wurde zunehmend zum offiziellen Sprachrohr des Zentralrats und verlor damit auch ein Stück Unabhängigkeit. Insbesondere unter den Zentralratsvorsitzenden Werner Nachmann und Heinz Galinski waren kritische Artikel nicht unbedingt angesagt. Seit den 90er-Jahren lebte die kritische Tradition von Karl Marx wieder auf, die Allgemeine wurde vielfältiger, stellte konträre Meinungen einander gegenüber und drückte auch die zunehmende Pluralität jüdischen Lebens im wiedervereinigten Deutschland aus.

Gratwanderung Seit ihren Anfängen berichtet die Allgemeine über die Vielfalt jüdischen Lebens. Egal, ob man über die Gefahren des weiter bestehenden Antisemitismus informiert sein will oder über die aktuellen Geschehnisse in Israel, ob man über die neuesten kulturellen Trends im jüdischen Leben oder über die Gemeindewahlen etwas wissen möchte, ob man den aktuellen Wochenabschnitt aufbereitet oder sich auf die Feiertage vorbereitet, ob man an den Ergebnissen der Makkabiade oder am letzten Tratsch aus der jüdischen Glamour-Welt interessiert ist, an der Allgemeinen führt kein Weg vorbei. Sie hat in den 75 Jahren ihres Bestehens nicht immer auf einfachen Wegen, aber letztlich doch erfolgreich den schmalen Grat zwischen kritischer Berichterstattung und offiziellem Sprachrohr der jüdischen Gemeinschaft beschritten.

Einer jüdischen Zeitung in Deutschland kommt eine substanziell andere Rolle als in den meisten anderen Ländern zu.

Dabei kommt einer jüdischen Zeitung in Deutschland eine substanziell andere Rolle als in den meisten anderen Ländern zu. Anders als die etablierte jüdische Presse in den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich richtet sie sich zu einem beträchtlichen Teil auch an ein interessiertes nichtjüdisches Publikum. Bereits Karl Marx verteilte kostenlos Tausende von Exemplaren an Meinungsmacher in Politik und Gesellschaft.

Im Laufe der Jahrzehnte wurde auch der Abonnentenkreis der Allgemeinen ein gemischter, und unter den Autoren finden sich jüdische wie nichtjüdische Namen. Auch dies ist eine Besonderheit der Allgemeinen, die durchaus die Gegebenheiten der deutsch-jüdischen Realität reflektiert.

Die vorerst letzte Herausforderung ist der digitale Wandel. Es ist vielleicht der größte Erfolg der Allgemeinen, sich trotz der nunmehr bietenden Konkurrenzmöglichkeiten im Internet faktisch ihre Monopolstellung im deutsch-jüdischen öffentlichen Diskurs bewahrt zu haben. Dies geht nicht nur auf die Digitalisierung ihrer eigenen Druckausgaben zurück, sondern auf die sorgfältige Berichterstattung, das Bemühen um Ausgewogenheit und nicht zuletzt auf die lange Tradition, die sie zu dem bekanntesten Markenzeichen der deutsch- jüdischen Gemeinschaft macht. So hat sie sich auch im Alter von 75 Jahren ihre jugendliche Frische bewahrt.

Der Autor ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur.

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