Im Menschen muss alles herrlich sein – das Gesicht, die Kleidung, die Seele und das, was er denkt»: Auf diesen Ausspruch aus Anton Tschechows Theaterstück Onkel Wanja stößt man in Sasha Marianna Salzmanns neuem Roman. Das Klassikerzitat schmettert ein Chefarzt seiner versammelten Belegschaft entgegen, zu der Lena, eine der Protagonistinnen des Romans, gehört.
Die 90er-Jahre sind angebrochen, die von Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow auf Reformkurs gebrachte Sowjetunion strauchelt zunehmend. Die Menschen sehen sich einerseits mit neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten und wachsenden Risiken konfrontiert. «Reaktionäre Dummköpfe, die nicht einsehen, dass ihre Zeit vorbei ist», so kommentiert ein Kollege den Ausspruch des Chefarztes, der seine Mannschaft dazu anhalten wollte, nicht in «nachlässiger, gar westlicher Kleidung» zur Arbeit zu erscheinen.
Diese Szene macht deutlich, warum Salzmann ihren Roman nach dem ersten Teil des eingangs zitierten Ausspruchs aus Onkel Wanja benannt hat. So, wie sich hier, auf der spätsowjetischen, bald turbokapitalistischen Bühne, ein kultureller Generationenkonflikt andeutet, läuft der gesamte Roman auf einen im Deutschland der Gegenwart angesiedelten Clash der Generationen hin. Im Mittelpunkt stehen mit Lena, ihrer Tochter Edi, Lenas Freundin Tatjana und deren Tochter Nina vier weibliche Figuren. Männern kommt in Im Menschen muss alles herrlich sein eine Nebenrolle zu.
PERESTROIKA Salzmann zeichnet die Protagonistinnen mehr oder minder detailliert. Viel Raum erhält Lena, deren Kindheits- und Jugenderfahrungen in einem sowjetischen Pionierlager in den 70er-Jahren ebenso präzise ausformuliert werden wie ihre Studienzeit im sowjetisch-ukrainischen Dnipropetrowsk (heute: Dnipro) und ihre ersten Schritte im Arbeitsleben in der Umbruchszeit der Perestroika. Salzmann porträtiert sowohl die bleierne, als «Stillstand» bezeichnete Breschnew-Periode als auch die folgenden, turbulenten Jahre unter Gorbatschow und den abermals beschleunigten Wandel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Auch der immer offenere Antisemitismus jener Jahre findet in den um die Nichtjüdin Lena kreisenden Kapiteln Erwähnung. Im Studium begegnet Lena erstmals antijüdischen Projektionen: «Wichtiger noch als der Austausch über prüfungsrelevanten Lernstoff schien es, zu erörtern, wer zu welchem Grad jüdisch war und wessen Eltern darum genug Bares besaßen, um ihm oder ihr ein Studium an der Universität in der richtigen Stadt zu ermöglichen.»
Im Mittelpunkt stehen vier weibliche Figuren. Männern kommt eine Nebenrolle zu.
Manchmal glaubt man gar, in der von Salzmann erzählten Sowjetunion Vorläufer heutiger Universitäts- und Feuilletondebatten zu erkennen: «Nun sprachen ihre Kommilitonen oft darüber, wer unter ihnen wohl Verbindungen nach Israel habe, wer zu welchem Anteil Schuld am Zionismus habe und ob und in welchem Sinn der Kosmopolitismus imperialistisch-verwerflich sei.»
Der in den 90er-Jahren einsetzende massenhafte Exodus der sowjetischen Juden findet seinen Widerhall in geradezu obsessiv monothematischen Partygesprächen. Als Lena mit dem Juden Daniel zusammenkommt, sagt eine Freundin zu ihr: «Wenn ich du wäre, würde ich mir jetzt deinen Juden schnappen und mit ihm ins Ausland abhauen. Wozu ist ein Jude sonst gut?»
AUSWANDERUNG Irgendwann erscheint, zumindest für Daniel, die Auswanderung tatsächlich als Option. Lena und Daniel verlassen Mitte der 90er-Jahre die nunmehr unabhängige Ukraine und landen im thüringischen Jena. Sprung ins Jahr 2015: Auftritt Edi, Edita, Lenas lesbische Tochter, die in Berlin ein Zeitungsvolontariat absolviert, um «vorzugsweise in den Westen zu reisen». Edi interessiert sich für die USA und Südamerika.
Die Redaktion aber erwartet von der Volontärin eine Reportage über «ihre Leute» im Osten Deutschlands: «Kontingentflüchtlinge, Nachzügler, Frühaussiedler, Spätaussiedler, Totalaussiedler, Wolgadeutsche, Russlanddeutsche, Juden mit Davidstern um den Hals, Juden mit Jesuskreuz um den Hals, armenische Juden, tscherkessische Juden, Kasachendeutsche mit jüdischen Haustieren.»
In Berlin macht Edi Erfahrungen mit Antisemiten ebenso wie mit Philosemiten: «Aus der ersten WG war sie rausgeflogen, weil sie dem Mitbewohner John die Matratze angekokelt hatte, nachdem er gesagt hatte, Israel müsse dem Erdboden gleichgemacht werden, aus der letzten, weil sie über dem Kopf ihrer Zimmernachbarin Alex eine ganze Waschpulverpackung ausleerte, als diese forderte, die ganze Welt sollte wie Israel sein.»
ERSCHÜTTERUNG Durch Ninas Augen wiederum vermag es Sasha Marianna Salzmann, die sowjetisch sozialisierte erste Generation der «Kontingentflüchtlinge» zu porträtieren. Es gelingt ihr, sich in die Auswirkungen des von ihnen erlebten Umbruchs einzufühlen. «Da ist ein unendlich großer Koloss zerfallen, so weit habe ich das verstanden», reflektiert Nina über den Zerfall der Sowjetunion.
«Ich habe Nächte, Wochen, Monate damit verbracht, nachzulesen, welche Erschütterung das gewesen sein muss. Das Einzige, was feststeht, ist, dass es immer noch Nachbeben gibt», erzählt sie. Nina sieht die Beschädigungen der Elterngeneration deutlich: «Man erkennt sie an diesem erschrocken trotzigen Gesichtsausdruck, sie schauen, als seien sie vom Leben abgestraft.» Sie staunt über deren auch in der Emigration weiter gepflegte Gemeinsamkeiten.
Auch Edi weiß um die Eigenheiten der Elterngeneration. Bevor sie zusammen mit Tatjana von Berlin nach Jena fährt, um den 50. Geburtstag ihrer Mutter mitzufeiern, stellt sie sich geistig auf die Eltern und deren Freunde ein, auf ihre innere Distanz zu den Deutschen und zu anderen Migrantengruppen, auf ihr ratloses Eingeschlossensein in der eigenen Prägung.
Die Geburtstagsfeier, die Lena, Edi, Tatjana und Nina wieder zusammenbringt, bildet eine Klammer des bisweilen in einzelne Teilerzählungen zerfasernden Romans. Im Menschen muss alles herrlich sein überzeugt vor allem als einfühlsame und schonungslose Mentalitätsstudie.
Sasha Marianna Salzmann: «Im Menschen muss alles herrlich sein». Suhrkamp, Berlin 2021, 384 S., 24 €