Vor gut drei Monaten saß Nadav Lapid in einem abgedunkelten Zimmer in Israel und sah sich alleine die Wettbewerbsfilme der Berlinale an. Jetzt will der israelische Filmemacher und Gewinner des Goldenen Bären von 2019 für seinen Film Synonymes endlich nach Berlin reisen – und als Mitglied der Jury am 13. Juni an der Preisverleihung der 71. Internationalen Filmfestspiele Berlin auf der Museumsinsel teilnehmen.
Denn die Corona-Zahlen, die im Winter ein Publikumsfestival noch verhinderten, haben sich entspannt und machen nun sowohl Nadav Lapids Teilnahme als auch ein Freiluftfestival wieder möglich: Vom 9. bis 20. Juni wird ein »Summer Special« mit zahlreichen Open-Air-Filmvorführungen für das Berlinale-Publikum veranstaltet.
Eine gute Nachricht für alle Kinofans – obwohl die Freunde des unterhaltsamen israelischen oder »jüdischen« Films auch in diesem Jahr bei der Berlinale nicht frohlocken werden. Denn im Programm wird in dieser Hinsicht auch diesmal vorwiegend schwere oder politisch einseitige Kost serviert.
ceausescu Ein Lichtblick ist Bad Luck Banging or Loony Porn des nichtjüdischen rumänischen Filmemachers Radu Jude. In seiner Satire, die den Goldenen Bären der Berlinale 2021 gewann, rechnet der Filmemacher mit den Folgen der Ceausescu-Diktatur in seinem Land und dabei unter anderem mit Verschwörungsmythen über Juden ab.
Radu Jude rechnet mit Verschwörungsmythen über Juden in Rumänien ab.
Am Anfang der Geschichte steht ein privat gedrehter Pornofilm der Lehrerin Emi aus Bukarest, der ins Internet gestellt wird und auf die Smartphones der Schüler und in die WhatsApp-Gruppe der Eltern gelangt. Am Ende des Films, der als einer der wenigen auf der Berlinale bereits die Corona-Pandemie thematisiert, wird eine Versammlung im Hof der Schule einberufen, die sich zu einer Art Schauprozess entwickelt.
Die Lehrerin muss sich vor den empörten Eltern rechtfertigen – unter anderem auch dafür, warum sie den im Lehrplan nicht vorgesehenen russisch-jüdischen Schriftsteller Isaak Babel behandelt hat. Man wirft ihr »jüdische Propaganda« vor, der Ausgang der grimmigen Satire bleibt offen.
rastlos Nur zwei Filme »made in Israel« werden diesmal gezeigt. Um die Suche nach einer echten Beziehung geht es in der Sektion Panorama in Mishehu Yohav Mishehu von Hadas Ben Aroya. Die Regisseurin und Schauspielerin stellt ins Zentrum ihrer Handlung die junge Israelin Avishag, die zusammen mit ihrem Freund Max gewalttätigen Sex ausprobiert. Avishag erleidet Blutergüsse, die auch Dror zu sehen bekommt – ein älterer wohlhabender Mann, auf dessen Hund sie aufpasst.
Zwischen den beiden entsteht eine Intimität, die sich der Hektik und Rastlosigkeit von Avishags Partyleben, dem ständigen Schauen auf das Smartphone und dem Ziehen von Kokain-Lines entzieht. Zum Schluss möchten einige Zuschauer des Films ganz sicher nur noch das, was Avishag sucht: ihre Ruhe.
Ein Ärgernis in mehrfacher Hinsicht ist The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation des israelischen Filmemachers Avi Mograbi in der Sektion Forum. Auch wer die Arbeit der israelischen Organisation »Breaking the Silence« nicht per se als anti-israelisch einstuft, fühlt sich schon alleine aufgrund der unzureichenden Qualität der Dokumentation von Mograbi vor den Kopf gestoßen.
einblendungen Das soll ein Film sein? Avi Mograbi sitzt mit Zottelbart in seinem Wohnzimmer und erzählt dem Zuschauer in den Pausen zwischen den kaum geschnittenen Einblendungen aus Aufnahmen von Breaking the Silence, in denen israelische Soldaten von traumatischen Kriegserlebnissen oder Erfahrungen mit Palästinensern im Westjordanland berichten, er habe schon immer gewusst, wie Besatzung funktioniert und wie zerstörerisch sie ist – in einem Tonfall, wie es scheint, von seltsamer Genugtuung.
Zum Schluss dieser »Dokumentation« werden Aufnahmen von 2014 aus dem Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen präsentiert – von israelischen Soldaten, die jubeln, wenn in Gaza Häuser gesprengt werden. The First 54 Years wird am 12. Juni um 21.30 Uhr im Open-Air-Kino des Hauses der Kulturen der Welt gezeigt.
Angesichts der jüngsten Raketenangriffe der Hamas und des Islamischen Dschihad auf Israel täte die Berlinale gut daran, diese Vorführung mit einer Diskussionsveranstaltung zu begleiten. Dabei müssten auch Israelis zu Wort kommen, die eine andere Meinung als Avi Mograbi hinsichtlich der Frage vertreten, wer für den immer wieder aufflackernden Beschuss Israels und die Kämpfe in Gaza verantwortlich ist.
ungarn Im Wettbewerb der Berlinale zeigt der ungarische Regisseur Dénes Nagy in seinem Spielfilmdebüt Természetes fény (Natürliches Licht) in düsteren Farben und mit spärlichen Worten einen langen Winter im Zweiten Weltkrieg in der besetzten Sowjetunion, in dem eine ungarische Sondereinheit ein Dorf nach Partisanen durchkämmt. Der sehenswerte, aber deprimierende Film wurde mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet.
Avi Mograbi spricht mit scheinbarer Genugtuung über Israels politische Probleme.
Um die heutige Realität in KZ-Gedenkstätten geht es in der Dokumentation À pas aveugles (Von wo sie standen) im Forum: In der französisch-deutschen Koproduktion schaut sich Christophe Cognet Schwarz-Weiß-Fotografien aus den Konzentrationslagern Ravensbrück, Dachau und Auschwitz-Birkenau vor Ort noch einmal an – dabei überlagern sich die historischen Aufnahmen und die heutige Wirklichkeit der Besucher.
Nur schade, dass – wie bereits im Vorjahr – keine Spielfilme mit »jüdischer« Thematik bei der Berlinale zu sehen sind, bei denen sich die Zuschauer entspannen oder vielleicht sogar ein bisschen amüsieren könnten. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Nächstes Jahr in Berlin?