Es war nur eine flüchtige Begegnung in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts in Wien, aber dennoch geht sie Ilya Brodsky, einem jüdischen Waisenjungen, nie wieder aus dem Kopf. Als Bote eines Fotostudios liefert er Abzüge in die noble Residenz der Familie Herzl aus.
»Damals hatte ich keine Ahnung von den Gegebenheiten, die mein Leben, oder besser: mein nicht-vorhandenes Leben, mit dem jugendlichen Sohn der Familie verbinden sollten«, erinnert er sich rückblickend viele Jahre später in London. »Wie hätte ich das auch ahnen können? Wer kann die Zukunft voraussagen?«
Pogrom Dafür sind Vergangenheit und Gegenwart umso präsenter. Denn als kleines Kind bereits muss Ilya Brodsky mit seiner älteren Schwester Olga vor den Pogromen im zaristischen Russland fliehen, strandet in Wien, bevor es dann weiter nach England geht, wo sich das Geschwisterpaar für immer trennen wird.
Seine Vita steht also stellvertretend für das Schicksal von Hunderttausenden entwurzelter Juden aus dem östlichen Europa, die niemand haben wollte und die nirgends zu Hause sein durften.
OSTJUDEN anders dagegen der literarisch ambitionierte Theodor Herzl, Spross einer wohlsituierten bürgerlichen Familie aus Budapest. Er personifiziert geradezu das assimilierte Judentum, das sich seiner sozialen Stellung sehr sicher ist und dessen Vertreter stets darauf pochen, nichts mit diesen »Ostjuden« gemein zu haben.
Trotzdem aber beschreitet Herzl einen völlig anderen Weg, entwirft mitten in der alten Welt der Habsburger Monarchie seine Vision eines modernen jüdischen Staates, der zum Rettungsboot der verfolgten und entrechteten Juden auf der ganzen Welt werden soll.
In der Graphic Novel wechseln manchmal recht abrupt die Zeitebenen.
Brodsky, der sich als Erwachsener im Verlauf der gezeichneten Erzählung geradezu obsessiv mit der Person Herzl auseinandersetzt, bezeichnet dies als einen Verrat im positiven Sinne, und zwar an der Assimilation. »Statt sich mit den Vorurteilen seiner Zeit zu identifizieren, setzte er sich für die Heimatlosen ein, machte sich die Sache der ›Bettler‹ zu eigen, wie er schrieb.« Und da ist noch mehr, was die beiden Protagonisten verbindet: der Verlust der geliebten Schwester.
In der Graphic Novel wechseln manchmal recht abrupt die Zeitebenen, Schlüsselmomente aus dem Leben Herzls werden skizziert, dann wieder Szenen aus der Perspektive des die Geschichte erzählenden Ilya Brodsky, beispielsweise sein Treffen mit dem Arzt und Schriftsteller Max Nordau, einem engen Weggefährten Herzls.
Das verleiht dem Ganzen ordentlich Tempo und erzeugt einen intensiven Spannungsbogen, der das Scheitern der beiden Figuren den Lesern besonders drastisch vor Augen führt: Brodsky, der nie eine wirkliche Heimat finden soll – »Muss man sich damit abfinden, mit diesem unstillbaren Verlangen nach Zugehörigkeit?«, fragt er sich an einer Stelle –, begeht 1932 Suizid. Und Herzl reibt sich physisch und psychisch für die zionistische Sache auf, stirbt bereits im Alter von 44.
ERBE »Ich wollte mit der Geschichte an mein jüdisches Erbe in der Diaspora, irgendwo zwischen Europa und dem Osmanischen Reich, anknüpfen«, skizzierte 2018 der in Frankreich lebende Camille de Toledo in einem Gespräch mit der Tageszeitung Yedioth Ahronoth seine Beweggründe für die Geschichte, an der er nach eigenen Angaben 16 Jahre lang gearbeitet hat. Den 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel hielt er für einen geeigneten Zeitpunkt für die Veröffentlichung. »Der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit lässt sich aus der Perspektive der Gegenwart ganz gut erkennen.«
Der Illustrator, Alexander Pavlenko, hat auch einen Bezug zu der Story. Denn er selbst ist vor dem Antisemitismus in der Ex-Sowjetunion 1992 nach Deutschland geflohen. »Während unserer Arbeit an dem Buch haben wir gesehen, wie sich viele der darin beschriebenen Situationen zu wiederholen begannen.« Nicht nur deshalb verdient diese Graphic Novel viel Aufmerksamkeit.
Camille Toledo und Alexander Pavlenko: »Herzl – Eine europäische Geschichte«. Graphic Novel. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Frankfurt am Main 2020, 252 S., 25 €