Günter Grass, der am Montag 87-jährig gestorben ist, war ein grandioser Schriftsteller, der in seinen Romanen, vor allem der 1959 erschienenen Blechtrommel, eine für deutsche Gegenwartsliteraten rare Fähigkeit zum Geschichtenerzählen ohne Innerlichkeitsabschweifungen bewies. Dafür wurde er 1999 zu Recht mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Doch Grass wollte stets mehr sein als ein bloßer Literat. Er verstand sich – und wurde von der bundesdeutschen Öffentlichkeit so auch angenommen – als politischer Intellektueller, mehr noch, als moralische Instanz.
In dieser Rolle aber scheiterte er an sich selbst. Angetreten als Repräsentant eines neuen Nachkriegsdeutschlands, das sich in bewusster Absetzung zu der NS-kontaminierten Vätergeneration definierte, engagierte Grass sich in den 60er-Jahren an vorderster Stelle gegen die Verdrängung der Nazi-Verbrechen, für Aussöhnung mit Osteuropa und, ja, für die Unterstützung Israels.
Er war der erste deutsche Schriftsteller, der offiziell in den jüdischen Staat eingeladen wurde. Ein Foto zeigt ihn 1967 in Bonn als Redner bei einer Kundgebung für Israel im Sechstagekrieg.
Gedicht Das war der (relativ) junge Günter Grass. Der alte Grass sang andere Töne. Unvergessen – wenn auch nicht seiner literarischen Meriten wegen – bleibt das »israelkritische« Gedicht »Was gesagt werden muss« 2012, in dem er unter Rückgriff auf antisemitische Topoi den Staat der Juden als Hauptgefahr für den Weltfrieden denunzierte. Israel, so Grass, plane einen nuklearen Erstschlag gegen den Iran, an dessen Ende »als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind«.
Gerade als Deutscher habe er die Pflicht, zu warnen, »auch weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist«. Eine »perfide moralische Umkehr der deutschen Geschichte« nannte das der damalige Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, zu Recht.
Davor lag 2006 Grass’ spätes Eingeständnis seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS – durch ebendenselben Günter Grass, der jahrzehntelang sein politisches Engagement mit der Abscheu vor der verdrängten NS-Vergangenheit führender Repräsentanten der Bundesrepublik begründet hatte. Im Alter fand der Schriftsteller mit 50-jähriger Verspätung zurück in den von ihm einst vehement bekämpften politischen Mainstream der 50er- und 60er-Jahre, der die Deutschen zu den eigentlichen Opfern des Zweiten Weltkriegs stilisiert hatte.
Schoa-Relativierung Dafür standen die Novelle Im Krebsgang 2002 über den Untergang des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff 1945 und ein Interview mit dem israelischen Historiker Tom Segev 2006, in dem Grass von sechs Millionen (!) toten deutschen Kriegsgefangenen fabulierte. »Der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen. (…) Die Verbrechen der Nazis … erlegten den Deutschen schlimme Katastrophen auf, und so wurden sie zu Opfern.« Im Übrigen, meinte Grass, hätten »der Wahnsinn und die Verbrechen« sich »nicht nur im Holocaust ausgedrückt« und auch nicht 1945 aufgehört. Schoa-Relativierung nennt man so etwas.
Ein biografischer Bruch? Eher wohl ein spätes Zu-sich-selbst-Kommen. Der ahistorische Hypermoralismus von Günter Grass war, das zeigt nicht nur sein Beispiel, im Grunde nichts weiter als eine spezifische Form des Wegduckens vor den dunklen Seiten der eigenen Biografie, eine ideologisch überhöhte Lebenslüge. Verdrängtes aber bricht sich früher oder später wieder seine Bahn.
So steht Günter Grass exemplarisch für das moralische Scheitern des sich selbst so verstehenden »besseren« Nachkriegsdeutschlands der »fortschrittlichen« Intelligentsia. Letztendlich war er das, was er anderen vorwarf zu sein: ein wenig einsichtiges Kind seiner Zeit.