Lizzie Doron, 1953 als Tochter von Überlebenden der Schoa in Tel Aviv geboren, schilderte in ihren wegweisenden Romanen Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen? und Ruhige Zeiten beispielhaft die abgeschlossene Welt jener Traumatisierten, die in der Normalität des jüdischen Staates zwar angekommen, doch nicht zu Hause sind.
Sie finden in einer Art »Überlebenden-Ghetto« am Stadtrand von Tel Aviv zusammen. Sprechen eine Sprache, die aus verbotenen Wörtern besteht und der stillschweigenden Übereinkunft, dass nicht kommunizierbar ist, was der Einzelne »dort«, im Europa der Konzentrationslager, erlebt hat.
ZWEITE GENERATION Mit diesen Romanen wurde die Linguistik-Dozentin zur bekannten Autorin, und ihre Texte gelangten schließlich sogar in die israelischen Schulbücher. 2007 dann erschien Der Anfang von etwas Schönem.
Darin thematisierte Doron zum ersten Mal ausdrücklich die Schwierigkeiten der »Zweiten Generation«: die Last, »Gedenkkerze« der Eltern zu sein, und als idealisierter Hoffnungsträger einer besseren Zukunft ein selbstbestimmtes Leben zu führen. In der Folge orientierte sich die Autorin weiter von der literarischen Bearbeitung ihrer Vergangenheit hin zu Themen der Gegenwart.
Ihre jüngsten Bücher handeln vom israelisch-palästinensischen Konflikt. Sie finden vor allem in Europa ein breites Publikum. In den vergangenen Jahren wurde Deutschland für Lizzie Doron der bevorzugte Ort, um ihre Erfahrungen zu kommunizieren. Sie schreibt nach wie vor auf Hebräisch, doch die Ausgaben ihrer Bücher erscheinen mittlerweile zuerst hierzulande, in Berlin hat die Autorin eine Zweitwohnung.
In ihrem neuen Roman nimmt Lizzie Doron das Thema der Zweiten Generation wieder auf. Was wäre wenn ist ein Nachtbuch, Dokument von Schlaf- und Trostlosigkeit, erfüllt von zwiespältigen Gefühlen. Die Geschichte basiert auf der Begegnung mit einer realen Person und ihrer Lebensgeschichte.
TRANCE »Ich habe sie innerhalb von einer Woche wie in Trance geschrieben. Voller Schuldgefühle. Denn es geht um einen Mann, der versucht hat, uns etwas Wichtiges zu erzählen, und niemand war bereit, ihm zuzuhören«, sagt die Autorin.
Die Ich-Erzählerin Lizzie erhält im Dezember 2018 einen Anruf aus einem Hospiz. Ein alter Bekannter will sie kurz vor seinem Tod noch einmal sehen. »Nach vielen Jahren der Funkstille und kurzem Zögern bin ich hingefahren. Einem, der im Sterben liegt, schlägt man keine Bitte ab.« Yigal Ben Dror ist ein Jugendfreund der Ich-Erzählerin. Ebenfalls Kind von Überlebenden. Auf der Schule verband sie eine Liebelei, gemeinsam feierten sie den Sieg Israels im Sechstagekrieg.
Yigal, aktiv bei den Pfadfindern und später Fallschirmjäger, ist charismatisch und überzeugter Israeli. Er habe das Zeug zum Generalstabschef, sagte man über ihn. Lizzie war von seinem rauen Charme beeindruckt und verunsichert. Während ihres Wehrdienstes im Kibbuz begegnete sie ihm wieder, dann verlieren sich die beiden aus den Augen. Im Jom-Kippur-Krieg wird Yigal von den Syrern gefangen genommen und gefoltert. Danach ist er ein anderer.
zweifel Er schreibt regelmäßig Briefe an Freunde, in denen er seine Zweifel an der Politik seines Landes artikuliert. Lizzie liest sie irgendwann nicht mehr. Im Libanonkrieg gerät Yigal in »friendly fire«. Es gibt viele Tote und über 100 Verletzte. Yigal überlebt und steigert sein Engagement als Friedensaktivist, isoliert sich aber zunehmend.
Die doppelt uneingelöste Liebesgeschichte spielt zwischen Mann und Frau, einem Staat und seinen Kindern.
Obwohl die Begegnung im Hospiz nur eine halbe Stunde dauert, löst sie eine Welle von Emotionen und Erinnerungen bei der Ich-Erzählerin aus. Lizzie fährt zurück nach Hause, sitzt allein in der Küche, aufgewühlt und durcheinander. In der Nacht findet sie weder Schlaf noch Ruhe. Als sie am nächsten Morgen im Hospiz anruft, ist Yigal Ben Dror, der zuletzt wieder seinen Diaspora-Namen Dobrinsky angenommen hatte, gestorben – am Ende seines Lebens als Sabre in Israel ebenso einsam wie einst die Schoa-Überlebenden aus Europa.
Das Buch ist eine kritische Selbstbefragung. In kurzen Rückblenden erinnert Lizzie Doron Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend. Gemeinsame Träume, Begeisterung für den Staat, die Abgrenzung gegenüber der »Opfer«-Elterngeneration, Abenteuer und Liebeleien werden gegenwärtig. Und auch: die Traumatisierung ihrer Generation durch den Jom-Kippur-Krieg, das Schwinden der Ideale.
ERZÄHLSTRUKTUR Was ist passiert, was haben wir getan, was hätten wir tun können? Diesen Fragen geht die aufgewühlte Ich-Erzählerin nach. Unterschiedliche Textformen (Erinnerungen, Momentaufnahmen, Zitate aus Briefen oder Liedern) formen die lockere Erzählstruktur. Der Roman ist zusammenhängend und fragmentarisch zugleich, assoziativ und motivisch verbunden.
Was wäre wenn ist ein zutiefst persönliches Buch, das schlaglichtartig die jüngere Geschichte Israels erhellt. Und es ist auch eine uneingelöste, doppelte Liebesgeschichte. Zwischen Mann und Frau und einem Staat und seinen Kindern. Die Ich-Erzählerin – und man darf mutmaßen, auch die Autorin – beklagt empathisch das Scheitern eines Traums. Die Entwicklung einer hoffnungsvollen Idee, die so viel Gutes versprach, altes Leid überwinden und neues Leid verhindern wollte. Und doch auch neues Leid verursacht. Aus dem verheißungsvollen »Wenn ihr es wollt, ist es kein Traum« ist ein skeptisches Was wäre wenn geworden.
Lizzie Doron: »Was wäre wenn«. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. dtv, München 2021, 143 S., 18 €