Man muss nur den Titel dieses Buches lesen, und schon beginnt die Musik im Kopf zu spielen: »All the leaves are brown« – und dann das Echo: »All the leaves are brown. And the sky is gray. I’ve been for a walk. On a winter’s day ...«
»California Dreamin’«: ein Millionenhit in den 60er-Jahren, die Hymne schlechthin der amerikanischen Hippie-Bewegung und der freien Liebe. Mit diesem und zwei, drei anderen Liedern katapultierten sich »The Mamas & the Papas« in die Hitparaden. Im Vordergrund der Folk-Rock-Band stand jedoch die Sängerin Cass Elliot, eine schwergewichtige Frau mit einer wundervollen, voll tönenden, variationsreichen und warmen Stimme, mit der sie auch am Broadway hätte berühmt werden können.
emigranten Geboren wurde Cass Elliot 1941 als Ellen Naomi Cohen, just in dem Jahr, als Präsident Roosevelt Nazi-Deutschland den Krieg erklärte. Die Großeltern der jüdischen Sängerin waren einige Jahrzehnte zuvor aus einem russischen Schtetl in die Vereinigten Staaten geflüchtet. »Opa Joseph hatte ständig Angst um seine Arbeit, weil die Familie links war oder jüdisch oder Gewerkschaftler oder was weiß ich«, sagte Elliot einmal über ihre Familiengeschichte. »Vater hatte Angst davor, in den Krieg zu müssen, weil er kränkelte. Und Angst vor Waffen hatte. Und vor Höhe. Und vor Menschenmengen.« Und die Mutter? »Die hatte Angst, weil sie meine Großeltern am Hals hatte.«
Cass Elliots Vater führte einen koscheren Lebensmittelladen in einem Vorort von Baltimore; ziemlich erfolglos, denn die Cohens waren weit und breit die einzigen Juden in der Stadt. Das Familienoberhaupt wäre viel lieber Tenor geworden, sang ständig Arien – und seine älteste Tochter Ellen, ein klassisches Papa-Kind, eiferte ihm nach. Rank und schlank und schön war die Sängerin damals, heißt es in Biografien über sie. Doch dann wird ihre Schwester Leah geboren, und Elliot fängt plötzlich an, übermäßig viel zu essen. Dass ihre Adipositas-Erkrankung auf den Verlust der elterlichen Aufmerksamkeit zurückzuführen ist, wird oft kolportiert, bleibt aber letztlich Spekulation.
Es ist vor allem auch diese Familiengeschichte, von der die französische Comic-Künstlerin Pénélope Bagieu in ihrer geistreichen wie kurzweiligen Graphic Novel California Dreamin’. Cass Elliot und The Mamas & the Papas erzählt. Das Buch skizziert den ungewöhnlichen Aufstieg des unsicheren, viel zu dicken Mädchens zu einer der größten Stars der Hippie-Bewegung.
anfänge Bagieu beschreibt Elliot als zielstrebig, schon als Teenager kündigt die Sängerin in dem Buch an, dass sie nach New York gehen und am Broadway berühmt werden wird. Sie nimmt sogar Gesangsstunden, und nach einer Weile muss sie dafür nicht einmal mehr bezahlen, so gut ist sie. Und obwohl sie nicht dem Schönheitsideal vieler Menschen entspricht, ist sie bei ihren Mitschülern außerordentlich beliebt. Sie ist zwar laut und aufdringlich, aber sie hat auch einen umwerfenden Humor und schlicht das, was man gemeinhin Präsenz nennt.
Mit 19 Jahren geht die Sängerin dann tatsächlich nach New York, lernt viele Leute kennen, unter anderem Denny Doherty, den Sänger John Phillips und seine schöne, blonde Frau Michelle. Und obwohl sie Folkmusik für völlig überholt hält, drängt sie sich 1963 in ein Folk-Trio hinein, »The Big Three«. Wenig später wechselt sie zu den »New Journeymen«, aus denen die »The Mamas & the Papas« hervorgingen.
Bagieu erzählt ihre Geschichte nicht ganz geradlinig. Vor allem wechselt sie von Kapitel zu Kapitel die Perspektive. So wird das erste Kapitel von Elliots Schwester Leah geschildert, das zweite von ihrem kleinen Bruder Joey, im dritten Kapitel geht es dann um ihre Schulzeit, in dem ihre Gesangslehrerin, der Sänger Scott McKenzie, ein gewisser Gitarrenspieler namens James Hendricks (»Später sollte er Probleme mit diesem Namen haben«) und ihr Mitschüler Jim Morrison zu Wort kommen.
Drogen Mit einem schwungvollen Bleistiftstrich, wild, rau und skizzenhaft, führt uns Pénélope Bagieu durch die Welt der skurrilen, mutigen und sensiblen Heldin. Sie schildert ihren Aufstieg zur Pop-Ikone, aber auch von ihrer Band »The Mugwumps«, die beinahe einen Plattenvertrag bekam, aber nur unter der Bedingung, dass Cass Elliot abnimmt. Bagieu enthält dem Leser auch nicht das bisher wenig beleuchtete Ende von Elliots Karriere vor, das von Drogenexzessen und Beziehungskonflikten zwischen den vier Mamas und Papas geprägt war. Elliot war heimlich in Denny Doherty verliebt und der wiederum ebenso heimlich und erfolglos in Michelle, die hübsche, dünne Frau des vierten Bandmitglieds, John Phillips.
Nicht immer indes stimmt, was Bagieu in ihrem Buch ausbreitet. So ist der berühmte Wechselgesang von »California Dreamin’« nicht an einem drogenseligen Tag in einer Garage entstanden, sondern von John und Michelle Phillips in einem New Yorker Hotelzimmer komponiert worden, lange bevor es »The Mamas & the Papas« gab. Aber auch diesen »Irrtum« kann man mit den Perspektiven erklären, denn diese Geschichte erzählt Cass Elliots Mutter, die zwischen herumliegenden kiffenden Hippies herumläuft, aufräumt und Geschirr einsammelt – da kann man dann schon einmal etwas falsch verstehen.
Und dennoch: Die Graphic Novel California Dreamin’ ist ein gut komponierter kleiner Roman, der mit dem größten Erfolg und dem größten Schmerz von Cass Elliot endet. In der Schlussszene des Buches fahren sie und Denny nachts eine Straße entlang, aus dem Radio tönt es: »Und nun, zum 14. Mal in unserer Hitparade, die, die ihr euch alle wünscht, Mama Cass, die Mamas, die Papas und ihr ›California Dreamin’‹!« Eine Minute zuvor hat Denny ihr gestanden, dass er Michelle liebt, wie sonst nichts in der Welt.
Wovon Bagieu nicht erzählt, ist der Tod von Cass Elliot. 1974 starb die Sängerin mit 32 Jahren an einem Herzinfarkt, der durch mehrere Hungerkuren und die Nebenwirkung von Diätpillen ausgelöst wurde.
Pénélope Bagieu: »California Dreamin’. Carlsen, Hamburg 2016, 272 S., 19,99 €