Als er am Grab seines Vaters heult, ermahnt ihn der große Bruder, er solle sich nicht aufführen wie ein Immigrant. Die Szene, die Saul Bellow auch in seinem Roman Herzog verarbeitete, kann als exemplarisch gelten. Der Vater handelt in St. Petersburg mit ägyptischen Zwiebeln und muss 1913 das Land verlassen, weil er seine Papiere gefälscht hat.
Zwei Jahre später wird Solomon am 10. Juni als jüngstes von vier Kindern in Lachine, einem armen Vorort von Montréal, geboren. Als er neun ist, zieht die Familie nach Chicago. Während der Vater Arbeit als Bäcker findet, später Holz und Kohlen ausliefert, und die Brüder sich bemühen, schnell Amerikaner zu werden, ist die Mutter, die kein Englisch lernt, wenige Blocks vom Haus entfernt schon verloren. Als orthodoxe Jüdin will sie, dass Saul Rabbiner wird, sieht ungern, wie er am College mit intellektuellen Freunden verkehrt. Sie fürchtet, aus ihm könne ein »Luftmensch« werden.
weltfremd »Ich las lieber Joseph Conrad, statt mich mit Geld zu beschäftigen. Bereut habe ich es nie«, erzählte Saul Bellow später in seiner Nobelpreisrede in Stockholm. Immer wieder thematisierte er in seinen Büchern den Konflikt zwischen dem religiösen Leben daheim und der harten Realität draußen. Seine intellektuellen Helden sind weltfremd, müssen sich unter lebenstüchtigen Geschäftsmännern bewähren. Das alte, europäische Judentum prallt auf das neue, amerikanische.
Trotzdem wehrte er sich stets gegen die Etikettierung als »wichtigster jüdisch-amerikanischer Autor der Nachkriegszeit neben Philip Roth und Bernard Malamud«, die ihm immer zugeschrieben wurde. Die Sprache der Straße wollte er mit dem hohen Stil verbinden. So entstand ein bis heute einmaliges Werk. Philip Roth sagte kürzlich, Bellow bilde mit Faulkner »das Rückgrat der amerikanischen Literatur«, und US-Präsident Barack Obama nennt ihn seinen Lieblingsautor.
Schon sein Debüt Der Mann in der Schwebe, in dem der Protagonist auf seine Einberufung wartet, trifft 1944 den Nerv der Zeit. Den Durchbruch aber schafft Bellow mit Die Abenteuer des Augie March (1953). Immer wieder führt er die Entfremdung des Individuums in einer materialistischen Welt vor. So auch in seinem besten Roman Herzog (1964), in dem der Universitätsprofessor Moses Herzog, von seiner Frau betrogen, in eine tiefe Sinnkrise stürzt und Briefe an Gott und die Welt schreibt. Die Korrespondenz wird zu einer existenzialistischen Auseinandersetzung mit Spinoza, Nietzsche und Heidegger. Philosophische Diskurse und kurzweiliges Erzählen halten sich die Waage.
Aerobic »Ein Roman ist die bessere Autobiografie«, davon war Bellow überzeugt. Immer heißt es, mit Humboldts Vermächtnis, für das er 1976 den Nobelpreis bekam, habe er seinen Höhepunkt erreicht. Das aber ist zu kurz gegriffen. Schrieb er doch danach ausgezeichnete Kurzgeschichten wie »Bellarosa Connection« oder Romane wie Ravelstein. Bis zu seinem Tod 2005 arbeitete Bellow jeden Tag. »Schreiben ist für ihn wie Aerobic«, sagte seine fünfte Ehefrau Janis über ihn. »Keine Ferien, kein Schabbat.«
Die Mühe hat sich gelohnt. Der »Luftmensch« wurde zum Nobelpreisträger, das jüdische Einwandererkind zum erfolgreichen Schriftsteller, der schmunzeln musste, als er nach Jahrzehnten einen alten Schulkameraden traf, der ihm erzählte, wie erfolgreich er sei, und ihn fragte: »Und du, Saul, was hast du in der Zwischenzeit so getrieben? Welchen Beruf hast du? Wie schlägst du dich durchs Leben?«