Wer es noch nicht mitbekommen haben sollte: 2024 ist offizielles Immanuel-Kant-Jahr. Denn der Geburtstag des epochalen Denkers jährt sich am 22. April zum 300. Mal. Grund genug für den deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm, der dieses Jahr den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung erhält, sowie den Schriftsteller Daniel Kehlmann, ein zweitägiges Gespräch über Kant zu führen.
Das Resultat ist nun in Buchform erschienen, was an sich bereits eine Herausforderung ist – schließlich ist es eine Sache, einen Dialog über den Autor von der »Kritik der reinen Vernunft« und dessen Auffassungen von Freiheit, Moral oder Universalismus zu führen sowie die Gedanken des Philosophen auf ihre Relevanz für Gegenwart hin abzuklopfen, und eine andere, sich trotzdem nicht dabei zu vergaloppieren.
Beide bringen auf jeden Fall die Voraussetzungen mit, sind ausgewiesene Kenner von Person und Werk. Kehlmann plante eine Dissertation über Kants Ästhetik, die nur durch seinen plötzlichen Erfolg als Schriftsteller verhindert wurde. Und Boehm bezog sich in seinen beiden Büchern Israel – eine Utopie sowie Radikaler Universalismus stets auf den in Königsberg geborenen Philosophen.
In einzelnen Abschnitten wie »Der böse Geist Descartesʼ und der Zweifel«, »Der moralische Imperativ: Kant gegen Sartre« oder »Kant gegen Einstein?« werden unzählige Aspekte im Denken von Kant durchdekliniert, was manchmal etwas unstrukturiert und vielleicht dem Format des Gesprächs geschuldet ist, weshalb letztendlich der Eindruck entsteht, Boehm und Kehlmann kommen zu oft vom Hölzchen auf Stöckchen.
Dabei ist die Vita von Kant in diesem Kontext weniger von Relevanz. Denn die schien ihnen wohl recht unspektakulär. »Sein Leben ist von Komik ebenso frei wie von Tragik«, bringt es Kehlmann auf den Punkt.
Dafür stehen andere Fragen im Vordergrund. »War der Mensch Kant ein Rassist oder nicht?«, will Boehm beispielsweise wissen und liefert die etwas nebulöse Antwort gleich mit: »Ich muss zugeben, dass diese Frage wichtiger ist, als ein Selfie an seinem Grab zu machen, aber nicht viel wichtiger. Die philosophische Frage ist die wichtige.«
Wie bei einer Zwiebel legen Boehm und Kehlmann sukzessiv Schicht um Schicht des Kantʼschen Denkens frei.
Daniel Kehlmann verweist auf die Tatsache, dass Kant trotz seiner Bekanntschaft mit Moses Mendelssohn Juden für »minderwertig« hielt und auch über Afrikaner oder Asiaten in Aufsätzen und seiner Vorlesung »Physische Geografie« wenig Positives zu sagen hatte.
»Ich sehe darin zunächst philosophisch, genau wie du, kein großes Problem«, so der Schriftsteller. »Warum soll Kant als Privatperson nicht auch großen Unsinn reden?« Doch etwas anderes irritiert ihn scheinbar doch. »Wie kann es sein, dass jemand so vorurteilsfrei denkt und doch dann wiederum seinen Vorurteilen so schlimm verhaftet ist?«
Auf diese Weise gelingt es Kehlmann recht gut, die Ambivalenzen des Philosophen herauszufiltern und zugleich zu betonen, dass man diese einfach zur Kenntnis nehmen sollte, um die Person und seine Gedankenmodelle zu erfassen.
Omri Boehm ordnet das folgendermaßen ein: »Wenn man so eine starke Definition der Menschheit vornimmt wie Kant, öffnet das die Tür zum Ausschluss all jener, die nicht dazu gehören.« Und zugleich macht er auf ein weiteres Kant-Zitat aufmerksam, was die von Kehlmann beobachtete Ambivalenz weiter verstärkt. Es lautet: »Die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen verschieden; und es gibt gar keine verschiedenen Arten von Menschen.«
Genau das sind dann die Stärken des Buches. Wie bei einer Zwiebel legen Boehm und Kehlmann sukzessiv Schicht um Schicht des Kantʼschen Denkens frei, um sich dem jeweiligen Kern eines Begriffs oder Konzeptes zu nähern. Das hat gewiss seinen Reiz, funktioniert als Lektüre aber nur dann, wenn man als Leser ein Grundwissen über die Philosophie von Kant & Co. mitbringt.
Omri Boehm/Daniel Kehlmann: »Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant« Propyläen, Berlin 2024, 352 S., 26 €