Die Sonne scheint, und die Bäume erinnern mit ihrer bunten Laubfärbung an den Indian Summer. Genau das richtige Wetter, um eine knapp vierstündige Wanderung vom Berliner Grunewald zum Nikolassee zu machen – und dabei viel über die Hachschara-Bewegung zu lernen.
Diese Führung bietet seit Kurzem das »Institut für Neue Soziale Plastik« an. Am S-Bahnhof Grunewald, wenige Meter vom Gedenkort Gleis 17 entfernt, warten bereits die Mitarbeiter und Initiatoren Benno Plassmann, Stella Hindemith und Janna Petersen, um einen Probelauf zu absolvieren. Die Jüdische Allgemeine begleitet sie dabei.
»Eigentlich hätten wir uns an der Bismarckallee 32 treffen müssen, denn da war früher die Private Waldschule Kaliski, unser eigentlicher Ausgangspunkt der Führung«, sagt Benno Plassmann, Historiker, Romanist und Theaterwissenschaftler. Doch heute erinnert nichts mehr an sie, das Haus wurde abgerissen und keine Gedenktafel weist diese Adresse als besonderen Ort aus. Früher bedeutet in diesem Falle Anfang des 20. Jahrhunderts – als jüdische Kinder und Jugendliche sie besuchten und sich auf eine Emigration ins damalige Palästina vorbereiten ließen.
RECHERCHE Alle drei Mitarbeiter des Vereins haben festgestellt, dass es über die Hachschara-Bewegung wenig bekanntes Material gibt, obwohl ihr so viele Menschen angehörten und sie so wichtig war. Seit Gründung des Instituts vor sechs Jahren recherchieren sie dazu, zu den vielen Orten in Brandenburg, zu den die Bewegung tragenden Organisationen, aber auch zur Geschichte der Bewegung nach 1945 bis zur Staatsgründung Israels. Gefördert wird die Arbeit über das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, »Demokratie Leben« und die »Brandenburgische Gesellschaft für Kultur und Geschichte«.
Der S-Bahnhof Grunewald liegt zurück. Kein Mensch ist dort unterwegs. Es riecht modrig und nach feuchten Boden.
Tausende jüdische Jugendliche bereiteten sich damals darauf vor, nach Erez Israel auszuwandern.
Inzwischen haben sie eine Vielzahl von Quellen und Literatur zusammengetragen. Oft handelt es sich um Materialien, die vergriffen und selbst archivarisch schwer zu finden sind, sagt Janna Petersen. Viele Jahre haben die drei immer wieder geforscht – und nun kann sich das Ergebnis sehen lassen. Einmal in Form einer Ausstellung mit dem Titel »Chawerim – Jüdische Selbstorganistation, Widerständigkeit und die Hachschara-Bewegung« und dank zweier verschiedener Wanderungen, denn auch von Bernau nach Eberswalde wird eine angeboten.
Tausende jüdische Jugendliche bereiteten sich mit einer hauswirtschaftlichen, handwerklichen oder landwirtschaftlichen Ausbildung in Deutschland damals darauf vor, nach Erez Israel auszuwandern. »Hachschara« bedeutet »Tauglichmachung, Vorbereitung« und bezeichnet Einrichtungen, in denen gelernt wurde, so Stella Hindemith, während es tiefer in den Wald geht. 1917 wurde die erste deutsche Hachschara im brandenburgischen Messingwerk Finow gegründet.
Wenige Jahre später, bei dem 12. Zionistenkongress 1922 in Karlsbad, bildete sich der Pionier-Weltverband Hechaluz, ein Jahr darauf wurde ein deutscher Hechaluz-Verband gegründet, der 1928 500 Mitglieder und vier Lehrgüter, die der Hachschara-Bewegung angehörten, zählte. Schätzungsweise 130 Ausbildungsstätten sollen im Laufe der Zeit entstanden sein.
AUSBILDUNG Die zunehmende Diskriminierung der Juden verschaffte der Hachschara-Bewegung in der Anfangsphase der Nazi-Zeit in Deutschland großen Zulauf. Neben der Vorbereitung zur Auswanderung nach Palästina spielte vor allem für junge Jüdinnen und Juden eine Rolle, dass die Hachschara eine der letzten Möglichkeiten für sie war, überhaupt eine Berufsausbildung zu erlangen, so Stella Hindemith. 1934 verzeichnete die deutsche Hechaluz rund 15.000 Mitglieder. Rund 3500 Menschen wurden zu dieser Zeit in den Hachschara-Lehreinrichtungen ausgebildet.
»Spazieren gehen ist auch in der Corona-Zeit wieder populär«, meint Benno Plassmann. Die Mitarbeiter des »Instituts für Neue Soziale Plastik« haben sich deshalb ergänzend zu ihren sonstigen Workshops überlegt, etwas an der frischen Luft anzubieten, natürlich auch hier mit Abstand und entsprechenden Hygienekonzepten. Ansonsten widmen sie sich der Erinnerungskultur und Bildungsarbeit für Jugendliche und Erwachsene: Das ist das Anliegen des Instituts.
Die Ausstellung ist derzeit in der Berliner Gedenkstätte deutscher Widerstand zu sehen.
Die Führung kann gebucht und die Wanderausstellung angefragt werden, sie wurde bisher in Potsdamer Staatskanzlei und in Eberswalde gezeigt und gilt zu gleich als Auftakt für das Modellprojekt »Chasak! Gegen Antisemitismus im ländlichen Raum«. Derzeit steht sie in der Gedenkstätte deutscher Widerstand. Außerdem sind Comics entstanden, die als Begleitmaterial zur Ausstellung erstellt wurden. Die Comic-Serie heißt Chawerim.
Bei dem bis 2024 laufenden Projekt wird unter anderem in Workshops mit Mitteln der kulturellen Bildung Wissen zu jüdischem Leben in Vergangenheit und Gegenwart vermittelt. Stella Hindemith und Janna Petersen kennen sich mit diesen Themen gut aus, denn sie haben in den vergangenen Jahren bereits Seminare für Lehrer in Mecklenburg-Vorpommern gegeben und waren Mitarbeiter bei der Antonio Amadeu Stiftung, wo sie sich auch kennengelernt haben.
Auch die privaten Waldschulen in Berlin boten damals das Training an. Dort wurde Gemüse gezogen, Tiere versorgt, Ställe ausgemistet und abends Hebräisch gelernt. Die Ursprünge der Hachschara lagen übrigens in der jüdischen Jugendbewegung der 1910er und 20er Jahre. Die wiederum war von den Werten der Pfadfinder und Bewegungen wie dem Wandervogel geprägt. Die Jugendlichen wandten sich dem einfachen Leben in der Natur, der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, dem Zelten und der Lagerfeuerromantik zu.
ZERTIFIKATE Nach wenigen Metern sind alle an der Kiesgrube, heute ein Naturschutzgebiet, das zum Entspannen einlädt, angekommen. Stella Hindemith, die in Berlin Kultur- und Literaturwissenschaften studiert hat, holt ihre Unterlagen aus einer Tasche heraus, auf die der Titel »Wider_Standpunkte« eingedruckt ist. »Die Jugendlichen mussten damals Zertifikate für die Einwanderung nach Palästina bekommen«, sagt sie.
Um diese zu erhalten, mussten sie zeigen, was sie im praktischen Bereich alles können. Denn die britische Kolonialmacht ließ überprüfen, was die Leute können und ob sie geeignet sind, zu immigrieren. Sie holt ein Foto hervor, auf dem fast nur junge Männer zu sehen sind. Unter ihnen Herbert Growald (1914-2007), der damals Lehrer und der letzte Leiter einer Gruppe war.
Sie stellt ihn vor: »Er hätte noch rechtzeitig auswandern können, ist aber geblieben, denn Lehrer waren Pioniere und leisteten den Schwur, dass sie mit den Kindern zusammenbleiben werden.« Er überlebte die Schoa und hielt schließlich 1988 in Yad Vashem einen Vortrag über diese Bewegung. Als junger Mann schloss er sich bereits den jüdisch zionistischen Bewegungen »Makkabi HaZair« und dem »HeChalutz« an, später gehörte er zum Leitungskreis. Im Mai 1943 wurde er mit den jüdischen Jugendlichen nach Auschwitz deponiert, dort sorgte er dafür, dass sie zusammen bleiben konnten und überlebte später den Todesmarsch.
WALD Weiter geht es. Der Teufelssee ist nicht weit entfernt, da führt der Weg in den Wald. »Die jungen Zionisten sind viel im Wald wandern gewesen«, sagt Benno. »Blau-Weiß« hieß der erste jüdische Wanderbund, der 1911 gegründet wurde. Blau ist auch der Hefter, in dem die weißen bedruckten Papiere abgeheftet sind, den Stella nun herauszieht. In diesen Farben sind damals vor dem Ersten Weltkrieg auch die Monatshefte des Wanderbundes herausgekommen.
Im Grunewald konnten sich versteckte Juden treffen, im See baden und manchmal sogar ihre Lieder singen.
»Der Wanderlust gehören diese Blätter«, heißt es da im April 1913. Stella Hindemith liest die Zeilen vor. Zahllos seien damals die Gruppen und Vereinigungen, in die das Jugendwandern eingegliedert sei. »Wohl darf in manchen auch die jüdische Jugend ihre Reihen schließen helfen, indes sie darf es nur.« Und weiter: »Wir sind aber der Meinung, dass der Judenstolz im Kinde nicht gebeugt, sondern gehoben werden müsse.« Deshalb gründeten sie den eigenen Verein, der bald 15.000 Mitglieder zählte.
»Müssen wir den Weg rechts oder links nehmen?«, fragt Stella Hindemith ihre Kollegen. Kurze Diskussion, dann schlagen alle den richtigen Weg weiter. Spaziergänger mit Nordic Walking Stöcken kommen entgegen, schauen interessiert und grüßen. Ansonsten ist es menschenleer im Wald. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde das Wandern immer beliebter. »Rucksack, Lodenmantel, Zeltbahn, Kochgeschirr und Liederbuch bilden die Ausrüstung.« So stand es in den Blättern April 1913 geschrieben.
»Während der NS-Zeit wandelte sich das freiwillige Tauglichmachen zu einer Form widerständiger Selbstbehauptung gegen Verfolgung.« Doch nun bekam der Grunewald auch eine neue Funktion, denn hier konnten sich versteckte Juden treffen, im See baden und manchmal sogar ihre Lieder singen. Daran erinnert sich Jizchak Schwersenz in seinem Kapitel »Die versteckte Gruppe«, das nun Stella an einem Aussichtspunkt auf ein Moor vorliest.
WANNSEE Weiter geht es vorbei an dem Grunewaldturm. Ein schmaler Waldweg führt in Richtung Wannsee. Parallel zu Schule und Studium war Schwersenz (1915 -2005) ab 1938 aktiv in den Organisationen der Kinder- und Jugend-Alijah und beim zionistischen Pfadfinderbund Makkabi Hazair. 1939 wird er der Leiter der Jugend-Alijah-Schule in der Choriner Strasse 74 in Berlin. Ende 1941, bei einer gemeinsamen Feier von Simchat Thora, dem letzten Fest der Herbstfeiertage, hatte Jizchak Schwersenz die schwere Aufgabe, seinen Schülern Mitteilung vom bevorstehenden Beginn der Deportationen zu machen. Mit Beginn der Deportationen schloss die Schule.
Immerhin gelang es ihm, einen Teil der Schüler in der als ›Gartenbauschule Wannsee‹ getarnten Hachschara und Außenstelle der Schule in einem Nebengebäude des Landhauses Oppenheim bis 1942 weiter zu unterrichten. »Die Gestapo hatte der Hachschara-Bewegung angeboten, dass ihre Jugendlichen dort das große Grundstück beackern könnten. Schweren Herzens wurde zugestimmt und so kam es, dass jüdische Jugendliche dort arbeiteten und manchmal Früchte mit nach Hause nehmen durften«, so Benno Plassmann. Heute erinnert eine Tafel daran.
Der Verein »Institut für Neue Soziale Plastik« wurde 2015 gegründet. Zu den ersten Aktivitäten des Vereins gehörte, die Unterschutzstellung des ehemaligen Hachschara Gutes Neuendorf bei Fürstenwalde (Spree) durch das Landesdenkmalamt zu erwirken. »Das Gut ist für die Brandenburger Lokalgeschichte von großer Bedeutung: als historischer Ort jüdischer Selbstorganisation, der Hachschara-Bewegung und später der Verfolgung von Juden«, meint Stella Hindemith. 2018 konnte ein gemeinnütziger Träger das Gut erwerben, wegen des Denkmalschutzes zu einem Bruchteil des ursprünglich anvisierten Verkaufspreises.
Der Verein setzt sich weiter für den Erhalt auch anderer Hachschara-Orte in Berlin und Brandenburg ein. Der Verein kooperiert dafür mit zahlreichen Partnern wie dem Museum Fürstenwalde, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, dem United States Holocaust Memorial Museum, und Yad Vashem, ebenso wie einer Gruppe von Nachfahren der Ermordeten und Überlebenden der Hachschara in Israel, die sich aus seiner Arbeit entwickelt hat.
Der Wannsee schimmert in der Sonne. Hier endet die Wanderung – mit müden Beinen und vielen neuen Erkenntnissen.