Kinderbücher

Vom Geheimnis der verlorenen Dinge

Zwei Werke über Franz Kafka und Walter Benjamin drehen sich um eine verschwundene Puppe und einen Koffer

von Eva Lezzi  03.06.2024 00:39 Uhr

Zwei Werke über Franz Kafka und Walter Benjamin drehen sich um eine verschwundene Puppe und einen Koffer

von Eva Lezzi  03.06.2024 00:39 Uhr

Kafka für Kinder, ein Bilderbuch über Benjamin? Lässt sich bei jüngeren Lesern tatsächlich ein erstes Interesse an Franz Kafka und Walter Benjamin, diesen beiden großen europäisch-jüdischen Dichtern und Denkern der Zwischenkriegszeit, wecken? Obwohl deren Werk als enigmatisch und selbst für Erwachsene mitunter schwer zugänglich gilt? Es gibt zwei kunstvoll gestaltete großformatige Bilderbücher, denen genau dies gelingt. Beide Bücher erzählen vom Geheimnis verlorener Dinge.

Kafka soll in seinem letzten Lebensjahr ein kleines Mädchen, das um eine verlorene Puppe weinte, mit Briefen ebendieser Puppe getröstet haben. Weder die Adressatin der Briefe noch die Briefe selbst wurden je gefunden. Es gibt auch keine Abschriften der Briefe oder Tagebuchnotizen dazu. Gab es diese Briefe wirklich? Gab es die verlorene Puppe und das weinende Mädchen?

Überliefert ist die Anekdote durch Kafkas Geliebte Dora, die mit ihm seine letzten Lebensmonate in Berlin verbracht hatte, bevor der Dichter im Juni 1924 an Tuberkulose starb. Künstlerisch aufgegriffen wurde und wird die Anekdote immer wieder, wenn auch für ein älteres Publikum – so beispielsweise im Jugendroman Kafkas Puppe (2008) von Gerd Schneider oder aktuell in dem Film Die Herrlichkeit des Lebens (2024) zu Franz Kafkas und Dora Diamants Liebesgeschichte.

Walter Benjamins Koffer ist nie gefunden worden

Auch der Koffer, den Walter Benjamin auf seiner Flucht vor den Nazis mit sich geschleppt hat, ist nie gefunden worden. Wir kennen seinen Inhalt nicht. Dass es ihn gegeben haben soll, wissen wir über Lisa Fittko, die als Fluchthelferin zahlreiche Fliehende über die Pyrenäen führte. Aus Angst, von den Nazis doch noch aufgegriffen zu werden, nahm sich Benjamin im September 1940 in der spanischen Grenzstadt Portbou das Leben. Sein kurzer Abschiedsbrief musste aus Sicherheitsgründen vernichtet werden, sein Koffer blieb verschwunden.

Herr Kafka und die verlorene Puppe erschien 2021 im englischsprachigen Original unter dem Titel Kafka and the Doll, die deutschsprachige Übersetzung von Mathias Jeschke in diesem Jahr bei Fischer-Sauerländer. Es ist ein Bilderbuch über die Kraft der Fantasie und die Macht des Geschichtenerzählens. Der Fokus liegt auf Irma, die über die Briefe an den Reisen ihrer verlorenen Puppe teilnimmt und dem Abschied von der Puppe, die in ein großes Antarktis-Abenteuer verschwindet, schließlich akzeptieren kann.

Der sensible, auch stimmig übersetzte Text von Larissa Theule führt Franz Kafka gleich im ersten Satz als Schriftsteller ein und lässt indirekt durchblicken, dass dieser Herr Kafka die Briefe der Puppe geschrieben hat. Die grafisch klaren, fast schon zweidimensional wirkenden Bilder von Rebecca Green geben den Gefühlen des Mädchens und den imaginierten Erlebnissen der Puppe viel Raum.

Es ist ein Bilderbuch über die Kraft der Fantasie und die Macht des Geschichtenerzählens.

Zugleich zeigen sie die Begegnung zwischen Irma und Herrn Kafka als innig und intensiv. Präsent sind auch Kafkas Geliebte Dora Diamant und seine Krankheit: seine Blässe, der Husten, die Kopfschmerzen, die dazu führen, dass einer der Briefe nicht von ihm, sondern von Dora Diamant übergeben wird. Zum Abschied schenkt Kafka dem Mädchen ein rotes Tagebuch, mit dem sie sich auf einem letzten Bild selbst auf Reisen begeben wird, mit im Gepäck auch ein Buch von Franz Kafka: Die Verwandlung.

Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin (NordSüd Verlag 2017) wurde von Pei-Yu Chang sowohl geschrieben als auch illustriert. Ihre sehr moderne Illustrationsweise verbindet Collagen und Skizzen, konkrete und verfremdete Elemente und spielt grafisch auch mit der Typologie sowie mit gezeichneten Buchstaben, die ein wildes Eigenleben führen. Eingangs beschreibt die Künstlerin Walter Benjamin als Philosophen, der »brillante Ideen aller Art« hatte, die den Machthabern in seinem Land schließlich als »gefährlich« galten.

In diesem Buch entsteht das Interesse der kindlichen Adressaten nicht über ein Kind als Identifikationsfigur oder über eine Interaktion zwischen Benjamin mit Kindern, sondern über spielerische Fantasien, die ansteckend wirken.

Was könnte der Inhalt dieses Koffers gewesen sein, den Walter Benjamin auf seine Flucht über Berge und Täler mitgeschleppt hat? Sind es wichtige Manuskripte, geheime Pläne für Kriegswaffen oder Gläser voll mit der von Oma gekochten Marmelade?

Die historischen Umstände werden knapp und noch immer kindgerecht erzählt

Auf einem der originellen Bilder sitzt Walter Benjamin selbst in seinem Koffer. Es wird hier eine universelle Geschichte von Flucht und Vertreibung erzählt, die mit den Dingen zu tun hat, die auf eine Flucht mitgenommen werden, die ein ganzes Leben bergen und unterwegs vielleicht dann doch zu schwer werden.

Judentum spielt in beiden Büchern eigentlich keine Rolle, auch nicht in den Nachträgen, in denen das Leben von Franz Kafka oder Walter Benjamin sowie die jeweiligen historischen Umstände knapp und noch immer kindgerecht erzählt werden.

Über Kafka heißt es lediglich: Er »war der einzige Sohn einer mittelständischen jüdischen Familie in Prag«, bei Pei-Yu Chang ist der Bezug noch indirekter: In einem Schreibheft von Benjamin lässt sich der hebräische Buchstabe Jod ent­decken.

Diese Auslassung erscheint angesichts der säkularen Lebensweise der beiden Protagonisten und der Knappheit der Bilderbücher durchaus gerechtfertigt, und doch ist Benjamin eben nicht als brillanter Denker, sondern als Jude verfolgt und vertrieben worden. Vielleicht liegt auch sein Judentum versteckt im geheimnisvollen, im verlorenen Koffer.

Larissa Theule und Rebecca Green: »Herr Kafka und die verlorene Puppe. Poetisches Kinderbuch ab 5 Jahren«. Fischer Sauerländer, Frankfurt 2024, 48 S., 16,90 € Pei-Yu Chang: »Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin«. NordSüd, Zürich 2017, 48 S., 20 €

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