Buchveröffentlichung

Vom Flüchtling zum Brückenbauer

Guy Stern (Archiv) Foto: Marina Maisel

Seine Liebsten wurden von den Nazis verschleppt und getötet, er selbst blickt auf ein inzwischen hundertjähriges Leben zurück. Als Jugendlicher konnte er zu Verwandten nach Amerika flüchten, doch der Plan, Eltern und Geschwister nachzuholen, scheiterte. Sie gehören zu den knapp sechs Millionen im Nationalsozialismus ermordeten Juden. »Manchmal schäme ich mich dafür, der einzige Überlebende meiner unmittelbaren Familie zu sein«, schreibt Guy Stern in seiner Autobiografie »Wir sind nur noch wenige«, die jetzt im Aufbau Verlag auf Deutsch erschienen ist.

Das Leben des als Günther Stern am 14. Januar 1922 geborenen Germanistikprofessors könnte eine Reihe von Büchern füllen. Eindringlich schildert er, wie Juden ab 1933 in Deutschland an den Rand gedrängt werden. Für den sportbegeisterten Zwölfjährigen ist es am schmerzhaftesten, als eine Delegation seines geliebten Turnvereins Eintracht Hildesheim die Familie besucht und erklärt, dass Günther trotz seines Talents nicht mehr Mitglied sein dürfe (»Befehle von ganz oben«).

Mit 15 Jahren erhält Stern ein Visum für die USA, obwohl sein Onkel dort nur ein arbeitsloser Bäcker ist. Erst über 70 Jahre später erfährt er, wer seine Rettung unterstützt hat. Dankbar ist Günther zunächst vor allem dem netten US-Konsul in Hamburg, dem Menschen wichtiger zu sein scheinen als Vorschriften - ganz im Gegensatz zu einem Rechtsanwalt am neuen Wohnort St. Louis. Der Jurist akzeptiert den Mann nicht, der für den Jugendlichen bürgen will, weil dieser von Beruf Glücksspieler ist, und verhindert damit Einwanderungspapiere für Mutter, Vater, den jüngeren Bruder und die kleine Schwester.

Ein eigenes Buch füllen könnten auch Sterns Erlebnisse als US-Soldat an der Front. Inzwischen heißt er Guy, ist eingebürgert und gehört zu einer Truppe von Feindaufklärern - später Ritchie Boys genannt. Stern verhört deutsche Kriegsgefangene, darunter den Arzt Gustav Wilhelm Schübbe. Das Foto vom Verhör in Bad Neuenahr 1945 ist eine von 37 Abbildungen in der Autobiografie. Wie das US-Magazin »Time« damals berichtete, gibt Schübbe freimütig zu, dass während seiner neunmonatigen Tätigkeit in einer Vernichtungsanstalt der Nazis in Kiew 110 000 bis 140 000 »lebensunwerte Menschen« umgebracht wurden. Davon habe er 21 000 »mit eigener Hand« getötet.

Jahrhundert-Zeuge Stern verbindet seine persönliche Geschichte mit Reflexionen und Einordnungen, zitiert mal William Shakespeare, mal Alfred Kerr. Er erzählt unterhaltsam und anekdotisch. Der Verlust von Eltern und Geschwistern ist so traumatisch, dass er heute noch kaum darüber sprechen kann. Auch später im Leben gibt es tragische Verluste. Jedoch nehmen in dem Buch, das 2020 zunächst auf Englisch erschien, auch kuriose und schöne Erlebnisse breiten Raum ein.

So wurde in seiner Truppe die verrückte Idee geboren, die deutschen Kriegsgefangenen mit einem erfundenen Kommissar Krukow zu schocken, wenn Verhöre ins Stocken gerieten. Stern spielte den irren Russen in Uniform. An anderer Stelle erzählt der Hundertjährige, wie er den Truppenbesuch von Marlene Dietrich erlebte und sogar mit dem Weltstar einen kleinen Abstecher im Jeep machte.

Für deutsche Leserinnen und Leser etwas weniger spannend sind Sterns Ausführungen zur Germanistik in den USA. Andere Episoden verdeutlichen, wie ungewöhnlich seine Rolle als Vermittler und Versöhner nur wenige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg war. So wollen zum Beispiel die Eltern eines amerikanisch-jüdischen Studenten unbedingt verhindern, dass ihr Sohn ein Semester an der Universität Freiburg verbringt. In Deutschland wiederum beobachtet Stern als Gastprofessor, wie junge Menschen daran zerbrechen, dass ihre Eltern glühende Nazi-Anhänger waren oder gar zu den Tätern zählten.

Besonders berührend sind die Kapitel, in denen Stern beschreibt, wie er seine Heimatstadt sowohl direkt nach dem Krieg als auch bei vielen weiteren Besuchen erlebt. 2012 wird er anlässlich seines 90. Geburtstags Ehrenbürger von Hildesheim - eingefädelt hat dies seine rund 40 Jahre jüngere dritte Ehefrau Susanna Piontek, die er 2004 bei einer Lesung im westfälischen Minden kennenlernte.

»Invisible Ink« (Unsichtbare Tinte) heißt Guy Sterns Autobiografie in der Originalfassung. »Sei wie unsichtbare Tinte!«, war der Rat seines Vaters nach der Machtübernahme der Nazis. Der Kaufmann hatte die Hoffnung, dass Juden, die sich unauffällig verhalten, Schikanen vermeiden können. Er habe in den USA erst lernen müssen, diese »Tarnkappe« abzusetzen, schreibt Stern.

Inzwischen hat der hundertjährige Hochschullehrer Spuren hinterlassen wie wenige andere. Unter anderem ist er Direktor eines Instituts am Holocaust-Museum in Detroit und Präsident des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Guy Stern zieht in seinen Vorträgen Zuhörerinnen und Zuhörer in seinen Bann - wie etwa 2019 im niedersächsischen Landtag. Er erinnert an die Stärken und Träume seiner getöteten Eltern und Geschwister und verbindet dies mit der Mahnung, die zerbrechliche Demokratie gegen Hass, Antisemitismus und Nationalismus zu schützen.

Guy Stern: »Wir sind nur noch wenige. Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys«, Aufbau Verlag, Berlin, 304 Seiten, 37 Abbildungen, 23 Euro

Los Angeles

Adrien Brody: Kim Kardashian jagte mein Internet in die Luft

Adrien Brody kann für seine Rolle in »Der Brutalist« auf einen zweiten Oscar hoffen. Große Aufmerksamkeit bekam er zuletzt auch wegen eines Projekts, in dem er gar nicht mitspielt

 04.02.2025

Kulturkolumne

Die Willkür von Symbolen

Gedanken zu Swastika, Hakenkreuz und roten Dreiecken in Fernost

von Laura Cazés  04.02.2025

Kassel

Documenta-Gesellschaft veröffentlicht Verhaltenskodex

Die Weltkunstschau trete »jeder Form von Antisemitismus, Rassismus und jedweder anderen Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« aktiv entgegen, heißt es darin

 03.02.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Von wegen Laufmaschen: Geschichten aus Strumpfhausen

von Nicole Dreyfus  03.02.2025

Eurovision

Der traurigste Tanz der Welt

Yuval Raphael überlebte den Nova-Rave am 7. Oktober. Nun vertritt sie Israel beim Song Contest

von Sabine Brandes  02.02.2025

Aufgegabelt

Jerusalemer Bagel

Rezepte und Leckeres

 02.02.2025

TV-Tipp

Paul Newman im großen Arte-Themenabend

Spielerdrama »Die Farbe des Geldes« und Doku über den US-Filmstar

 01.02.2025

Kultur

Uraufführung des Oratoriums »Annes Passion«

Über die Darstellung von Anne Frank in veschiedenen Kunstformen streiten Historiker und Autoren seit mindestens 70 Jahren. Das Oratorium von Evgeni Orkin entfacht die Kontroverse neu

von Valentin Schmid  31.01.2025

Nachruf

Grande Dame des Pop: Marianne Faithfull ist tot

In den »Swinging Sixties« war sie Mick Jaggers schöne Freundin - eine Zuschreibung, mit der sie später oft haderte. Nach Schlagzeilen und Drogensucht gelang ihr die künstlerische Wiederauferstehung

von Werner Herpell  31.01.2025